Dölauer Straße 46


Hier wohnten Paul Frankl und seine Ehefrau Elsa Johanna Frankl geb. Herzberg sowie Marguerite Friedlaender

1921 erwarb der Universitätsprofessor Paul Frankl das Haus Dölauer Straße 46. Mit seiner Frau Elsa und den fünf Kindern Peter (*1906), Wolfgang (*1907), Johanna (*1912), Susanne (*1915) und Regula (*1921) bewohnte er das Erdgeschoss und eine Hälfte des Dachgeschosses, dessen Speicherräume er für sich als Studio und für seine Söhne als Wohnzimmer ausgebaut hatte.

Die andere Dachgeschosshälfte vermietete er an die Keramikerin Marguerite Friedlaender.
Paul Frankl wurde am 22. April 1878 in Prag geboren und stammte aus einer angesehenen jüdischen Familie, zu der zahlreiche gelehrte Rabbiner zählten, darunter der berühmte Oberrabbiner Aron Simon Spira-Wedeles. Seine Vorfahren gehörten zeitweise zu den zehn wohlhabendsten Familien Prags.
Der Vater Carl Frankl (*1833 in Prag, †1879 in Wien) war Getreidehändler. Die Familie seiner Mutter Amalia von Wiener (*1855 in Most, † 1934 in Wien) kam ursprünglich aus Nordböhmen. Ihr Vater Friedrich Markus Ritter von Wiener genoss als Mitglied im Prager Stadtrat und Präsident der dortigen Anwaltskammer hohes Ansehen.
Paul Frankls Schwester Olga, genannt Olly (1877-1960), machte sich in Österreich als Frauenrechtlerin einen Namen. Ihr gelang 1940 mit ihrem Mann, dem Arzt Emil Schwarz, über Triest die Ausreise in die USA.

In Prag besuchte Paul Frankl das "Staats-Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache“, auf das auch Franz Kafka ging. Nach der Matura diente er ein Jahr als Freiwilliger im Österreichischen Heer und war anschließend Leutnant der Reserve. Von der jüdischen Gemeinde mit ihren strengen Konventionen, die er als klaustrophobisch und verfilzt empfand, fühlte er sich eingeengt, und vom Antisemitismus, der ihm außerhalb der eigenen Kreise entgegentrat, behindert. Um diese Schranken zu überwinden, konvertierte er – zum Entsetzen seines Vaters – bei Studienbeginn zum Katholizismus, die Hausreligion der Habsburger.

Paul Frankl studierte ab 1897 Architektur in Prag, München und Berlin. Dort lernte er über seinen Jugendfreund Max Wertheimer Elsa Herzberg (*1879 in Berlin) kennen, eine unkonventionelle Künstlerin, die sich mit Käthe Kollwitz ein Atelier teilte.
Sie ging ganz in der Kunst auf, malte, bildhauerte, spielte Klavier, sang Arien und hatte ein Lachen, das eine ganze Tonleiter umfasste – ihre starke, unkonventionelle Persönlichkeit und ihre wunderbar roten Haare faszinierten Frankl.
Elsas jüdischer Vater Alexander Herzberg (*1841 in Kamen, † 1912 in Norderney) war ein erfolgreicher, weitgereister Zivilingenieur, Fabrikbesitzer und Königlicher Baurat in Berlin, der sich vom mosaischen Glauben abgewandt hatte. Ihre Mutter Amalia Hermann (*1849 in Gabin, † 1918 in München) kam aus einer hugenottischen Familie und erzog ihre Kinder evangelisch.

Am 28. Juni 1905 heirateten Paul und Elsa Frankl in London. Anfang Januar 1906 kam ihr erster Sohn Peter in München auf die Welt, wo sie fortan lebten. Frankl arbeitete als Architekt und baute in dieser Zeit für sich und seine wachsende Familie ein komfortables Wohnhaus an der Ammersee Straße in München-Gauting und für seinen Schwiegervater als Alterssitz ein Haus in Neuglobsow am Großen Stechlinsee. Elsa widmete sich der Kunst und der Ausgestaltung des Familienlebens. 1907 erkrankte Frankl an Gelenktuberkulose in der Schulter und wurde operiert, danach konnte er nicht mehr am Zeichenbrett arbeiten. So wechselte er das Metier, studierte Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte und promovierte 1910 in München bei Berthold Riehl über „Die Glasmalerei des 15. Jahrhunderts in Bayern und Schwaben“.
Als Assistent habilitierte er sich zwei Jahre später bei Heinrich Wölfflin mit einer Arbeit über „Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst“. Danach wurde er als Privatdozent am Münchner Kunsthistorischen Institut eingestellt und 1920 zum außerordentlichen Professor ernannt.

1914 wurden er und seine Frau in Bayern eingebürgert. Auf Grund seines Schulterleidens wurde er im Ersten Weltkrieg nicht eingezogen. Am 30. November 1920 wurde Paul Frankl als Ordentlicher Professor für Kunstgeschichte an die Vereinigte Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg berufen. Als Leiter des kunsthistorischen Instituts unterstand ihm auch die Kupferstichsammlung, 1932/33 war er Dekan der Philosophischen Fakultät. Frankl weitete das Themenspektrum des Instituts durch seine Studien zur Gotik und seine methodischen Forschungsansätze. Beim Kurator der Universität, Ludwig Pallat, fand er stets große Unterstützung.
Paul und Elsa Frankl pflegten einen großen Freundeskreis und förderten die musischen Begabungen ihrer Kinder. Sie erzogen sie evangelisch und begingen mit ihnen die christlichen Feiertage. Frankl engagierte sich in Halle außerdem für zeitgenössische Kunst. Er war Mitglied im Kuratorium der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein und warb in Aufsätzen für ihre praxisintegrierte Ausbildung.
Dem Moritzburg- Museum vermittelte er einen Ankauf von Werken des Klee-Schülers Hans Reichel. Sein Doktorand, der Fotograf Hans Finsler, richtete 1927 an der Burg die erste Fachklasse für Fotografie an einer Kunstschule ein. Seit 1927 gab Frankl in Weimar an der Staatlichen Hochschule für Handwerk und Baukunst, der dortigen Nachfolgeinstitution des Bauhauses, Kurse zur Geschichte der Baukunst.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933, den in schneller Folge erlassenen Ermächtigungsgesetzen und der umgehend einsetzenden Ausgrenzung von Juden verkehrten sich für Paul Frankl und seine Familie die Verhältnisse zum Schlechten. Ende April 1933 wurde er ohne Begründung mit sofortiger Wirkung vom Dienst beurlaubt. Im Oktober wurde die Beurlaubung zwar aufgehoben, doch am 27. März 1934 erfolgte über das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums seine endgültige Versetzung in den Ruhestand. Allerdings nicht unter Berufung auf §3, den sogenannten Arier-Paragraph, sondern über §6, der besagte, dass Beamte „zur Vereinfachung der Verwaltung“ ohne Begründung in den Ruhestand versetzt werden können.
Das Schreiben war vom damaligen Ministerialdirektor im Preußischen Kultusministerium Wilhelm Stuckart, der sich später in der antijüdischen Gesetzgebung profilieren sollte, unterzeichnet.

Frankl erhob unter Verweis auf seine finanzielle Situation Einspruch und versuchte, die Pensionierung in eine Emeritierung umzuwandeln, seine Frau wandte sich sogar direkt an den Reichsminister Bernhard Rust. Doch vergeblich.
1935 kehrten seine Frau und er Halle den Rücken und gingen nach München zurück. Da das Gautinger Haus vermietet war, bezogen sie eine Wohnung in der Mauerkircherstraße, in der auch Elsas ältere Schwester Grete Litzmann lebte. Die finanzielle Situation war höchst angespannt, denn Frankl musste nicht nur für den Heimunterhalt seines an Schizophrenie erkrankten Sohnes Peter aufkommen, sondern alle Kinder und Schwiegerkinder unterstützen. Sein einst beträchtliches Kapitalvermögen war bereits den Kriegsanleihen und der Inflation zum Opfer gefallen.

Die allgegenwärtige Gefährdung versetzte die Familie in eine ständig überreizte Stimmung. Von München aus reiste Frankl nach Istanbul, einem der Zufluchtsorte für deutsche Wissenschaftler und Architekten, um Möglichkeiten einer Anstellung zu sondieren, ebenso nach England und nach Rom.
Während der Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 hielt Frankl sich mit einem sechsmonatigen Visum zu einer Vortragsreise in den USA auf. Seine Frau und seine beiden Töchter Susanne und Regula weilten mit dänischen Freunden in München, als nachts die SS klingelte, um nach ihm zu fragen. Sie schickten ihre Freunde an die Tür, die die SS-Männer wissen ließen, dass Frankl sich im Ausland aufhalte. Seine Frau schrieb ihm umgehend, dass er nicht nach Deutschland zurückkehren solle. Sie selbst reiste eine Woche später mit ihrer Tochter Susanne nach Dänemark und blieb vorerst in Kopenhagen.

Elsas Schwester Grete Litzmann hatte ihre Pässe verwahrt, so dass sie noch keinen Judenstempel trugen. Sie war vorehelich geboren, somit „arisch“, und mit dem Germanisten Berthold Litzmann verheiratet, der selbst kein Nazi war, aber in Karl Litzmann, dem Gefolgsmann Hitlers, einen nationalsozialistischen Namensvetter hatte, der der Familie ungewollt Schutz bot. Sie wickelte auch den Verkauf der beiden Häuser in Halle und München zu erzwungenen Niedrigpreisen ab. Das Haus in der Dölauer Straße wechselte für 23.000 Reichsmark den Besitzer. Der Käufer des Münchner Hauses machte horrende Reparaturen geltend, sodass das Haus am Ende nur noch 12.000 Reichsmark wert war. Sein altes Bauernhaus in St. Johann im Defreggental in Tirol konnte Frankl aber an gute Freunde weiterreichen.

Frankl blieb in New York und wohnte bei seiner wohlhabenden Cousine Carrie Fries in der Park Avenue, die ihm und seiner Familie großzügig half. Bei Ablauf seines Visums erkrankte er an einer Gallenentzündung und wurde in einem Armenkrankenhaus operiert. Das führte zur Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung und rettete ihn vor der drohenden Ausweisung. 1939 beantragte er beim deutschen Erziehungsministerium die Verlegung seines Wohnsitzes nach New York und erwirkte die Zahlung seiner Rentenbezüge auf ein Sonderkonto.
Der nationalsozialistische Kurator der Universität, Friedrich Tromp, zollte ihm sogar noch einmal Anerkennung: er habe als Gelehrter einen großen Ruf und sich politisch wie gesellschaftlich Zurückhaltung auferlegt, deshalb habe man anfangs von seiner Entlassung abgesehen.

1941 reiste Frankl nach Kuba, betrat ausländischen Boden und konnte bei der Rückkehr als Immigrant die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragen. Nach zwei existentiell schwierigen Jahren mit temporären Lehraufträgen wurde er schließlich mit Hilfe seiner Freunde Max Wertheimer und Paul Kristeller und durch Vermittlung Erwin Panofskys Mitglied des „Institute for Advanced Study“ in Princeton, das vielen deutschen Emigranten Zuflucht bot.
Seine Frau Elsa konnte 1939 von Dänemark aus zu ihrem Sohn Wolfgang nach England reisen, wurde aber als feindliche Ausländerin erst im Londoner Holoway Prison, dann auf der Isle of Man interniert, bis sie 1943 mit einem der letzten Passagierschiffe nach Amerika übersetzen konnte. Nach fünf Jahren war sie wieder mit ihrem Mann vereint.
In Princeton vollendete Paul Frankl seine grundlegenden Publikationen über die gotische Architektur. Zur Recherche führte ihn 1947 ein zweijähriges Guggenheim-Stipendium noch einmal nach Europa, wo er auch in Deutschland Gastvorlesungen hielt. Einen Tag nach Fertigstellung des Manuskriptes starb er am 30. Januar 1962.

Seine Frau Elsa starb am 30. Dezember 1969. Das Familiengrab befindet sich auf dem Quäker-Friedhof in Princeton.

Zum Lebensweg der Frankl-Kinder

Der älteste Sohn Peter (*1906 München, †1935 Tannenhof/Remscheid) war schon 1925 an katatonischer Schizophrenie erkrankt und lebte seitdem in verschiedenen Landesheilanstalten und Privatkliniken. Er war künstlerisch begabt, spielte Geige und wollte Stadtplaner werden. 1934 war Paul Frankl gezwungen, ihn in Remscheid in eine Heilanstalt III. Klasse zu geben. Dort starb er im Alter von 29 Jahren.

Der zweitgeborene Sohn Wolfgang Frankl (*1907 München, †1994 Terni) hatte in Stuttgart Architektur studiert und lebte seit 1933 in Rom, flüchtete jedoch nach dem Abkommen zwischen Hitler und Mussolini 1939 nach England, wo er mit Kriegsausbruch zunächst interniert wurde. 1945 kehrte er nach Rom zurück und gründete mit dem Architekten Mario Ridolfi eine Bürogemeinschaft.

Susanne Frankl (*1915 Gauting, †2005 Fairfield, Iowa) gründete nach der Flucht mit ihrer Mutter nach Dänemark in Kopenhagen mit Freunden einen Modebetrieb und entkam im Oktober 1943 der Deportation durch die nächtliche Rettungsaktion der dänischen Fischer, die jüdische Flüchtlinge nach Schweden brachten. 1946 zog sie in die USA, heiratete Gerhard Wilk, einen Anwalt aus Berlin, der ähnlich abenteuerliche Fluchterlebnisse in Jugoslawien erlebt hatte, und arbeitete als Modedesignerin.

Die jüngste Tochter Regula (*1921 Gauting, †1973 Sandia Park, New Mexico) besaß im November 1938 schon ein Schiffsticket nach New York und konnte ausreisen. Mit einem Stipendium für jüdische Flüchtlinge studierte sie am Radcliff-College Psychologie und gab später Wissenschaftsmagazine heraus.

Frankls älteste Tochter Johanna (*1912 Gauting, †2010 New York) war die einzige, die in Deutschland blieb. Sie hatte sich im Dalcroze-Seminar der Berliner Musikhochschule zur Musikpädagogin ausbilden lassen, heiratete im Mai 1933 in Halle den Buchhändler Richard Kulbach (*1903 Höchst) und gab in Heimen des halleschen Jugendamtes Unterricht in Musik und Rhythmik. Nach 1933 durfte sie nur noch privat und ausschließlich jüdische Kinder unterrichten. Johanna wohnte bis zu ihrer Hochzeit in der Dölauer Straße bei den Eltern, das Ehepaar zog dann in den halleschen Süden, in eine Wohnung im Finkenweg 17c.
Richard Kulbach brachte seinen zweieinhalbjährigen Sohn Bernhard mit in die Ehe. Nach dem Tod seiner an Tuberkulose erkrankten ersten Frau war der Junge bei seinem Schwager untergebracht. Nun konnte er ihn zu sich nehmen. Als Bernhard jedoch später einmal bei Richards Halbschwester und ihrem Mann, zwei überzeugten Nationalsozialisten, zu Besuch war, verweigerten sie seine Rückgabe, da Richards jüdische Frau ihn nicht entsprechend erziehen könne. Sie gaben ihn in ein nationalpolitisches Internat (Napola). Es dauerte 10 Jahre, bis sein Vater ihn wiedersehen konnte.

Richard Kulbach verlor auch, da er als „jüdisch versippt“ galt, bald nach 1933 seinen Anteil als Gesellschafter der halleschen Universitäts- und Fachbuchhandlung Ludwig Hofstetter Sortiment und erhielt dort sogar Zutrittsverbot. Er verlegte sich zunächst auf einen privaten Antiquariatsversand, ließ sich dann aber zum Elektrotechniker umschulen und arbeitete nach Umzug ins anonymere Berlin für die Fernsteuerungsfirma Albert Patin. Er nutzte jede Gelegenheit zur Sabotage.

Johanna wurde 1942 zur Zwangsarbeit verpflichtet und musste bis Kriegsende Kartoffeln für Nazioffiziere schälen, Richard Kulbach ab 1944 die Druckmaschinen einer Färberei reinigen. Nach der Ausbombung ihrer Wohnung kamen sie bei Johannas Cousine Charlotte Landesberger und ihrem katholischen Mann Ernst Löslein in Karlshorst unter, die ein ähnliches Schicksal hatten. Nach Kriegsende fand Richard Kulbach in Weimar eine Anstellung als Referent im Ministerium für Volksbildung der sowjetischen Besatzungsmacht. Außerdem war er als Mitgesellschafter für den Diederichs Verlag vorgesehen, dieser gründete sich dann aber in Düsseldorf neu. Und da er sich weigerte, in die SED einzutreten, wechselte er nach Berlin. 1947 wurde er dort an den Dahlemer Museen als Bibliothekar eingestellt, um die Rückführung der ausgelagerten Bestände zu organisieren.

Neun Monate nach der Geburt seiner Tochter Elisabeth (Lisle) stürzte er im Januar 1949 in einen Fahrstuhlschacht und starb. Johanna Kulbach zog daraufhin in die USA zu ihren Eltern und baute sich in New York eine neue Existenz als Musiklehrerin auf.

Im Dachgeschoss des Hauses Dölauer Straße 46 wohnte ab 1926 die Keramikerin Marguerite Friedlaender.

Sie wurde am 11. Oktober 1896 in Écully (bei Lyon) geboren und wuchs dort bis zu ihrem 15. Lebensjahr mit ihrer Schwester Charlotte und den drei Brüdern George, Ernest und Henri auf. Ihr Vater Theodor Friedlaender (*1856 in Berlin, †1938 in Versoix) betätigte sich nach alter Familientradition im Seidenhandel und war um 1874 nach Lyon in die „Stadt der Seide“ gekommen. 1893 hatte er Rose Calmann geheiratet.

Theodor Friedlaender war in vierter Generation ein Nachkomme von David Joachim Friedländer, dem engagierten Kämpfer für ein aufgeklärtes Judentum, der 1771 von Königsberg nach Berlin übersiedelte und dort eine Seidenmanufaktur gründete. Er war mit dem Gelehrten Moses Mendelssohn befreundet und wurde als erster Jude 1809 in Berlin zum Stadtrat gewählt. In dieser Funktion brachte David Friedländer 1812 das Preußische Judenedikt auf den Weg, das die „Schutz“-Juden aus der Abhängigkeit vom König löste, sie als Staatsbürger anerkannte und ihnen die freie Wahl des beruflichen Gewerbes und des Wohnortes gewährte. Theodor Friedlaenders unmittelbare Vorfahren wirkten vor allem als Kaufleute, Bankiers und Juristen, erst in Stolp (heute Słupsk in Polen) und dann in Berlin. In Lyon arbeitete Theodor Friedlaender erst für die Firma R. D. Warburg & Co, dann als Lehrlingsgesellschafter bei einem Kommissär für Seidenstoffe namens Th. Schilling, dessen Firma er 1901 überahm und unter der Bezeichnung „Friedlaender et Cie – commisionaire en soieries“ weiterführte.

Rose Calmann (*1867 in Bradford, †1954 in Los Angeles) war in England aufgewachsen. Ihre Eltern Charles und Louise Calmann, die beide aus Tuchhändlerfamilien stammten, waren bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von Mühlhausen nach Bradford in Yorkshire ausgewandert, das damals ein Zentrum der englischen Wollindustrie war. Kurz nach der Hochzeit mit Rose hatte Theodor Friedlaender in Lyon den Antrag auf Einbürgerung gestellt und die deutsche Schreibweise des Familiennamens mit Umlaut aufgegeben. Beide pflegten einen großbürgerlichen, assimilierten Lebensstil, der eher von der französischen und englischen Mentalität als von einer gläubigen jüdischen Identität geprägt war.

1914 siedelte die Familie nach Berlin über. Für kurze Zeit besuchte Marguerite Friedlaender ein Berliner Gymnasium, legte dann aber unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihr Abitur an einer Internatsschule in Folkstone in England ab. Marguerite sprach fließend Deutsch, Englisch und Französisch. Zurück in Berlin begann sie noch während des Ersten Weltkriegs ein Holzbildhauerstudium an der dortigen Kunstgewerbeschule. Sie brach dieses jedoch ab, um eine Stellung als Porzellanmalerin bei einer Porzellanfabrik in Rudolstadt anzunehmen. Ab 1919 studierte sie am Weimarer Bauhaus und machte in der Dornburger Keramikwerkstatt bei Max Krehan und Gerhard Marcks eine Töpferlehre, die sie 1922 mit der Gesellenprüfung abschloss. Bis 1925 arbeitete sie an der Seite von Max Krehan in der sogenannten Oberen Werkstatt in Dornburg und stellte traditionelle Thüringer Töpferware her.
Zum 1. November 1925 erhielt Marguerite Friedlaender an der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle eine Anstellung als Fachlehrerin und Leiterin der Keramikwerkstatt. Im Frühjahr 1926 legte sie vor der halleschen Handwerkskammer ihre Meisterprüfung ab und bezog im Juli gleichen Jahres im Haus Paul Frankls eine kleine Dachwohnung, ihre erste eigene Wohnung.

An der Burg baute sie die unter Gustav Weidanz als Entwurfsatelier geführte Keramikklasse zu einer Produktionswerkstatt für Gebrauchskeramik aus und etablierte eine prägnante, vom Bauhaus geprägte Formgestaltung. Ihre Gebrauchsgefäße, vor allem Teegeschirre, Vasen und Krüge, fanden insbesondere auf der Leipziger Messe viele Käufer. 1929 richtete sie außerdem eine Porzellanwerkstatt ein und entwarf für die Berliner Firma KPM die ersten funktionalen, dekorlosen Porzellangeschirre. Ihre Produktfamilien hießen „Hallesche Form“ und „Burg Giebichenstein“. Sie tragen bis heute den Namen ihres Entstehungsortes werbewirksam in die Welt und brachten der Schule ein überregionales Renommee. Heute zählen sie zu den Design-Ikonen des 20. Jahrhunderts.
Am 31. Januar 1930 heiratete Marguerite Friedlaender den Keramiker Franz Rudolf Wildenhain (*1905 in Leipzig). Er hatte, wie sie, sein Studium am Bauhaus begonnen und war ihr 1926 nach Halle gefolgt. Er wohnte gemeinsam mit ihr in der Dölauer Straße. Nachdem er im Dezember 1930 seine Meisterprüfung abgelegt hatte, übernahm er an der Burg die Leitung der Keramikwerkstatt, damit Marguerite sich ganz der Porzellanherstellung widmen konnte. Ihre Trauzeugen waren ihre Künstlerkollegen, der Bildhauer Gerhard Marcks und der Maler Charles Crodel.

Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme verlor Marguerite Friedlaender im März 1933 ihre Stelle an der Burg Giebichenstein in Halle und damit ihre künstlerische wie menschliche Heimat. Wie das geschah, schilderte sie in ihren Memoiren: Der hallesche Kulturdezernent und Bürgermeister Hieronymus Velthuysen besuchte sie persönlich und forderte sie, die einzige jüdische Lehrkraft, in vorauseilendem Gehorsam und mit Tränen in den Augen auf, doch die Schule von sich aus zu verlassen– in der irrigen Annahme, damit die sich anbahnenden kulturpolitischen Übergriffe verhindern zu können. Zwei Monate später wurden unter dem Vorwand von Sparmaßnahmen sieben Werkstätten der Burg Giebichenstein geschlossen und zehn ihrer Lehrer entlassen, deren Kunst nicht in das völkische Denken der Nationalsozialisten passte.

Marguerite Friedlaender kam der Aufforderung Velthuysens umgehend nach – und damit ihrer Entlassung zuvor. Sie fuhr zu ihren Eltern nach Versoix in die Schweiz, hielt Familienrat und beschloss, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Der Verlust ihrer Anstellung bewirkte einen irreparablen Bruch ihrer Karriere als Porzellandesignerin. Die siebeneinhalb Jahre in Halle blieben die beruflich erfolgreichsten und privat glücklichsten ihres Lebens.

Friedlaenders Verlassen der Burg wurde unterschiedlich aufgenommen. So protestierte der Bildhauer Gerhard Marcks Anfang April 1933 beim neuen nationalsozialistischen Oberbürgermeister gegen die Kündigung: „Alle bedauern wir außerordentlich, dass eine unsrer besten Kräfte, ein Mensch von vorbildlichem Charakter, die Leiterin unserer Porzellanabteilung, Frau Friedländer-Wildenhain, ihrer jüdischen Herkunft wegen geopfert wurde.“ Im Mai wurde er ebenfalls entlassen. Erhalten ist aber auch der Bericht eines Blockwarts namens Rees vom Oktober 1933. Er erklärte Friedlaender zum Sündenbock für die gesamte moderne, bauhausorientierte Ausrichtung der Burg, indem er kolportierte, was ihm berichtet worden sei: „Dass an der ‚Burg‘ ein Einfluss ausschlaggebend – und nicht zum Segen der Anstalt und ihrer Menschen geherrscht habe – der Einfluss einer einzigen Jüdin (Fr. Friedländer) die inzwischen vorgezogen hat den Boden Hollands mit dem des neuen Deutschlands zu vertauschen.“
Im Sommer 1933 ging Marguerite Friedlaender nach Holland, wo sie zusammen mit ihrem Mann in Putten das private Töpferstudio „Het Kruikje“ gründete. Beide etablierten sich dort in kürzester Zeit mit einer bodenständigen und zugleich sachlich modernen Keramikproduktion in künstlerisch aufgeschlossenen Kreisen, doch hinterließ die Entlassung aus dem Lehramt bei Marguerite schwere Wunden. Gerhard Marcks fasste es 1934 bei seinem ersten Besuch in Holland in die folgenden Worte: „Sie hat seelisch einen Knacks gekriegt, scheint mir, und ersäuft ihn in Tätigkeit.“

Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen im September 1939 und den allgemein befürchteten weiteren Expansionsplänen Hitlers gen Westen ahnte Friedlaender, dass sie auch dort nicht sicher war. Am 3. März 1940 bestieg sie in Rotterdam einen Überseedampfer nach New York, diesmal allein. Als französische Staatsbürgerin hatte sie noch ein Visum bekommen, nicht aber ihr Mann, da die Quote für deutsche Passagiere ausgeschöpft war.

Nach einer zweijährigen Orientierungsphase fand Friedlaender in Kalifornien nördlich von San Francisco in der Künstlerkolonie „Pond Farm“ ihre neue Heimat. Fast vier Jahrzehnte leitete sie dort in den Sommermonaten Keramikkurse und vermittelte Generationen von Schülern europäisches Handwerksethos und Bauhausdenken. Nunmehr konzentrierte sie sich ausschließlich auf das künstlerische Töpferhandwerk, das im multikulturellen Amerika ohne Tradition war.
Erst nach Kriegsende konnte ihr Ehemann, der Keramiker Franz Rudolf Wildenhain, ihr in die USA folgen. Doch die Ehe überstand die Jahre der Trennung nicht und währte nur bis 1950. Franz Rudolf Wildenhain starb 1980 in Rochester/New York.

Marguerite Friedlaender reiste nach 1945 nur noch zweimal nach Europa, eine Rückkehr war für sie ausgeschlossen. Sie starb am 24. Februar 1985 auf der Pond Farm in Guerneville, Kalifornien.

Über das Schicksal von Marguerite Friedlaenders Familie ist folgendes bekannt:

Die Eltern hatten sich bereits 1933 in ihr Sommerhaus am Genfer See in der Schweiz zurückgezogen, der Vater fuhr nur noch einmal nach Berlin, um finanzielle Angelegenheiten zu regeln. Die Mutter harrte nach seinem Tod 1938 alleine aus, bis ihre ältere Tochter Charlotte sie nach Kriegsende zu sich nach Los Angeles holen konnte.

Friedlaenders Geschwistern gelang es ebenfalls, den Nationalsozialisten zu entkommen. Charlotte (*1894 in Lyon, †1975 in Silverspring/Montgomery County) emigrierte zusammen mit ihrem Mann, dem Gräzisten Paul Friedländer (*1882 in Berlin, †1968 in Los Angeles), der von 1932 bis 1935 an der Martin-Luther-Universität in Halle lehrte, bis ihm als evangelisch getauftem „Nichtarier“ 1935 die Professur entzogen wurde, bereits 1939 über Holland in die USA. Paul Friedländer kam 1938 für fünf Wochen im KZ Sachsenhausen in „Schutzhaft“ und verlor seine Mutter und seinen Bruder mit Frau und Tochter im Holocaust.

Marguerites älterer Bruder George (*1895 in Lyon, †1990 in New Rochelle/USA), der schon seit 1914 als Seidenhändler in New York lebte, wo der Vater ihn bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hingeschickt hatte, bürgte für die Aufnahme seiner Geschwister. Seine kleine Wohnung in der 5th Avenue wurde zur Anlaufstelle für drei der Friedlaender-Kinder: neben Marguerite und Charlotte gelang auch ihrem Bruder Ernest (*1898 in Lyon, †1972 in Palo Alto/Kalifornien), der im Herbst 1933 als Ingenieur für Fahrzeugtechnik ebenfalls nach Holland gegangen war, mit seiner Familie die Emigration in die USA.

Nur Marguerite Friedlaenders jüngster Bruder Henri (*1904 in Lyon, †1996 in Jerusalem) blieb in Holland zurück und wurde 1018 Tage von seiner Frau Maria Bruhn (*1905 in Itzehoe, †1995 in Jerusalem) auf einem Dachboden in Wassenaar versteckt. Als ausgebildeter Handsetzer und Buchgestalter, der an der Leipziger Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe studiert und sich danach an vielen Orten in der Buchdruckkunst weitergebildet hatte, stand er seiner Schwester im Engagement um eine handwerksbasierte Kunst besonders nahe. Bereits 1932 war er als künstlerischer Leiter und Buchgestalter nach Holland gegangen. 1950 emigrierte Henri Friedlaender nach Jerusalem, wo er eine Druckereifachschule aufbaute.

Quellen und Weiterführendes

Recherche und Text: Dr. Katja Schneider mit Unterstützung des Zeit-Geschichte(n) e.V.

Rede von Lisle Kulbach aus Boston anlässlich der Stolperstein-Verlegung für ihre Großeltern Paul und Elsa Frankl am 21. Oktober 2022 in der Dölauer Straße 46:
Deutsche Fassung und Englische Originalfassung

Flyer mit Biographien, verteilt anl. der Stolpersteinverlegung zum Downlad als PDF

Archive und Literatur:

Familie Frankl
Frankl-Kulbach Collection im Center forJewish History, Leo Baeck Institute New York; Teilnachlass im Deutschen Exilarchiv 1933 – 1945, Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt; Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Stadtarchiv Halle (Saale).

Gert van der Osten: Paul Frankl. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 24, 1962, S. 1-14.

Heinrich Dilly: Akten betreffend den ordentlichen Professor der philosophischen Fakultät Dr. phil. Paul Frankl 1. Juli 1934 in den Ruhestand versetzt. Nachwort zur Neuausgabe von Paul Frankl: Das System der Kunstwissenschaft. Berlin 1998, S. 1-26

Ulrike Wendland: Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der im Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler. München 1999, Bd. 1, S. 152-157.

Paul Crossley: „Der Soldat der Wissenschaft“. Paul Frankl und die gotische Kathedrale. In: 100 Jahre Kunstgeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Personen und Werke, hg. von Wolfgang Schenkluhn, Halle 2004, S. 71-81 (Hallesche Beiträge zur Kunstgeschichte, Heft 5/6.

YouTube: Die Kunst von Elsa Frankl

Persönliche Erinnerungen der Familie Frankl

Fotos: Privatbesitz Familie Frankl/ Kulbach

Marguerite Friedlaender:

Marguerite Wildenhain Papers, American Archives of Art, Smithonian Institution; Marguerite Wildenhain Collection and Works, Fine Arts Collection, Luther-College, Decorah, Iowa; Stadtarchiv Halle; Archiv Burg Giebichenstein – Kunsthochschule Halle; Bauhaus-Archiv Berlin.

Marguerite Friedlaender-Wildenhain: Ein Leben für die Keramik. Verlag Neue Keramik 1989.

Ausstellungskatalog: Wir machen nach Halle. Marguerite Friedlaender und Gerhard Marcks. Halle (Saale) 2018.

Ausstellungskatalog: Marguerite Friedlaender. Pötte – Potten – Pots. Keramikmuseum Bürgel, Bürgel 2021.

Video Marguerite Wildenhain and Pond Farm Pottery, 22 May 2017:
Video Stewards of the Coast and redwoods, 22 June 2021:
Marguerite Wildenhain: Bauhaus to Pond Farm. Sonoma County Museum, 2007 (pdf) Fotos: Familienbesitz Familie Friedlaender, Archiv der Kunsthochschule Burg Giebichenstein.