Rudolf-Breitscheid-Straße


(ehemals Königstraße 18)

Hier wohnten Clotilde Brasch und ihre Kinder Gerhard und Helga Brasch

In dem Teil der Rudolf-Breitscheid-Straße, wo heute kein Haus mehr steht, sich nur ein Parkplatz befindet, lebte und arbeitete die jüdische Familie Brasch: Vater Emil Brasch, Mutter Clotilde geb. Frank und die Kinder Gerhard und Helga. Zu dieser Zeit hieß die Straße noch Königstraße und das Haus mit der Nummer 18 gehörte der Familie Brasch.
Emil Brasch stammte aus Ostpreußen. Er wurde am 20.9.1868 in Bladiau geboren (heute Pjatidoroschnoje/Oblast Kaliningrad). 1914 heiratete Emil Brasch in Berlin die Kaufmannstochter Clotilde Frank. Sie war am 25.2.1880 in Forchheim zur Welt gekommen.
Das Ehepaar lebte in Halle, wo sich Emil Brasch mit der „Sächsisch-Thüringischen Scheuertuch- und Leinenlohnweberei“ bereits wirtschaftlich etabliert hatte. Er besaß mehrere Patente für Scheuertücher, erfand u.a. das „Stern-Scheuertuch“.

Am 14.10.1915 kam Sohn Gerhard zur Welt. Tochter Helga wurde am 2.2.1919 in Jena geboren. 1935, mit 66 Jahren, verstarb Emil Brasch in Halle.
Clotilde Brasch war nun Eigentümerin des Hauses und Inhaberin des Geschäfts, das sie bis 1939 halten konnte, dann jedoch aufgeben musste.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich Sohn Gerhard im Konzentrationslager Sachsenhausen.
Er war im Zuge des Reichspogroms vom 9. auf den 10. November 1938, wie viele andere jüdische Männer in sogenannte „Schutzhaft“ genommen und in das Lager deportiert worden. Mit dem Mittel der Schutzhaft konnten willkürlich Menschen verhaftet werden, ohne dass es einer richterlichen Überprüfung bedurfte. Im Zuge der Reichspogromnacht wurden etwa 35.000 Menschen in Schutzhaft genommen, die als Häftlinge vollkommen rechtlos waren. Am 14.3.1939 wurde Gerhard Brasch unter der Auflage entlassen, Deutschland schnellstmöglich zu verlassen. Noch im April 1939 floh er nach Shanghai.

Clotilde Brasch war es gelungen, Tochter Helga nach England zu schicken. Nach Angaben ihres Sohnes war das junge Mädchen dort allerdings sehr unglücklich, so dass sie nach Deutschland zurückkehrte. Hier fand sie sich in einer Situation wieder, mit der sie, die gerade freiwillig zurückgekehrt war, sicher nicht gerechnet hatte. Sie wurde als "jüdische Remigrantin" festgenommen und in das Frauenkonzentrationslager Moringen gebracht. In diesem Lager wurden vor allem Zeugen Jehovas, aber auch „Rassenschänderinnen“, „Berufsverbrecherinnen“ und Frauen inhaftiert, die im politischen Widerstand waren, die einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen hatten, der Prostitution beschuldigt wurden oder sich abfällig über das NS-Regime geäußert hatten. Nach Auflösung des Lagers im März 1938 wurden alle Häftlinge, so auch Helga Brasch, in das Konzentrationslager Lichtenburg gebracht.
Ihre Mutter setzte alle Hebel in Bewegung, um ihrer Tochter eine erneute Fluchtmöglichkeit zu verschaffen. Helga Brasch gelang es tatsächlich abermals, aus Deutschland nach England zu fliehen. Die näheren Umstände der Flucht sind nicht bekannt.

Clotilde Brasch, nun allein in Halle, bemühte sich auch um die eigene Auswanderung. Doch vergeblich. Am 1. Juni 1942 wurde sie mit weiteren 154 Juden von Halle aus in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und noch am Ankunftstag, am 3. Juni 1942, mit Gas ermordet. Sie war 62 Jahre alt.
Gerhard Brasch überlebte den Krieg in Shanghai und gelangte 1947 in die USA. 1953 erhielt er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Er lebte in Kalifornien, wo er 1988 starb.

Helga Brasch hatte in England eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert. Auch sie zog 1947 in die USA, wo sie 1953 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. Ein Jahr später heiratete sie den ebenfalls aus Deutschland geflohenen Ernst Simon und bekam 1956 mit ihm Sohn David.
Über seinen Vater berichtet David, dass er als amerikanischer Soldat gegen Deutschland gekämpft habe. Er gehörte zu den „Ritchie Boys“, das waren meist junge jüdische Emigranten aus Deutschland und Österreich, die ihre Ausbildung im Camp Ritchie absolviert hatten, wo sie u.a. in der psychologischen Kriegsführung ausgebildet worden waren. Da die Männer der deutschen Sprache mächtig waren und die Befindlichkeiten der Deutschen kannten, wurden sie vor allem eingesetzt, um den Gegner zu verhören, zu demoralisieren und kriegswichtige Informationen zu erlangen. Auch die Schriftsteller Stefan Heym und Klaus Mann gehörten zu dieser Einheit.
Ernst Simon war auf amerikanischer Seite an der „Battle of the Bulge“ (Ardennenoffensive) und an der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau beteiligt. Während der Nürnberger Prozesse waren einige „Ritchie Boys“ als Dolmetscher im Einsatz, so auch Ernst Simon.

Ende der 1970er Jahre kamen Helga und David Simon nach Halle, wo sie auch das Haus besuchten, in dem Helga Brasch aufgewachsen war und das der Familie während des Nationalsozialismus weggenommen wurde. 1984 verstarb Helga Brasch in Los Angeles, Kalifornien. Dort lebt heute ihr Sohn David Simon.

Quellen

Stadtarchiv Halle (Saale)

Landesarchiv Berlin

Arolsen Archives

Hallesches Adressbuch (Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt)

United States Holocaust Memorial Museum

JDC Archives

The National Archives, England

The National Archives, San Francisco

State of California, Department of Health and Welfare

Bericht David E. Simon an den Zeit-Geschichte(n) Verein