Verhaftet im Oktober 1989
Im Gebäude des heutigen Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt in der Reideburger Straße 47 in Halle (Saale) befand sich bis 1990 eine Schule der DDR-Transportpolizei mit einem großen Außengelände und einem Garagenkomplex, der inzwischen fast vollständig abgerissen wurde. Im Zuge der Sanierung des Gebäudes hatte sich das Landesamt mit der Geschichte des eigenen Hauses befasst und den Wunsch geäußert, an diese mit einer Gedenktafel zu erinnern. Der Verein Zeit-Geschichte(n) hat diesen Wunsch unterstützt, einen Tafeltext formuliert und die notwendigen Gelder eingeworben. Einen Beitrag leisteten neben dem Verein die Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur des Landes Sachsen-Anhalt sowie die Mitarbeiter des Landesamtes mit eigenen Spenden.
Am 1. Oktober 2019 konnte die Tafel im Beisein mehrerer Zeitzeugen, des Oberbürgermeisters der Stadt Halle (Saale), Dr. Bernd Wiegand, und der Landesbeauftragten Birgit Neumann-Becker feierlich enthüllt werden.
Sehen Sie hier einen Filmbeitrag von TV Halle zur Gedenktafel vom 1.10.2019
Gedenktafel am Umweltamt
Dabei wurde an die Ereignisse im Herbst 1989 erinnert:
Das Ministerium für Staatssicherheit hatte am Sitz des heutigen Landesamtes bereits 1988 einen „Zentralen Zuführungspunkt“ eingerichtet, das heißt im Falle einer „Konterrevolution“ sollten hier Menschen ohne Haftbefehl und außerhalb öffentlicher Wahrnehmung festgesetzt und verhört werden. Anfang Oktober 1989 erging vom Nationalen Verteidigungsrat der DDR in Bezirke und Kreise der Befehl, alle militärischen, paramilitärischen und polizeilichen Kräfte sowie die Staatssicherheit in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen. Die Kernaussage des Befehls lautete wie folgt: „Konterrevolutionäre Aktivitäten sind schon im Ansatz und mit allen Mitteln zu verhindern!“
Am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR, und am Montag, dem 9. Oktober 1989, kam es wie in vielen Orten auch in Halle (Saale) zu vereinzelten Protestaktionen. Bei den darauf folgenden gewaltsamen Räumungen des Marktplatzes wurden Menschen auf LKW verladen und zum „Zentralen Zuführungspunkt“ in der Reideburger Straße gebracht: 48 Menschen am 7. und 37 Personen am 9. Oktober – darunter nur wenige Demonstranten, sondern mehrheitlich Erwachsene und Minderjährige, die sich nur zufällig auf dem Marktplatz aufgehalten hatten.
In offenen Garagen mussten sie – viele bis zum nächsten Morgen – mit dem Gesicht zur Wand stehen. Es war ihnen verboten, sich hinzusetzen oder zur Erwärmung zu bewegen. Verpflegung gab es nicht. Wer sich beschwerte, musste zur Strafe die „Fliegerstellung“ einnehmen – sich mit gespreizten Armen und Beinen an die Wand lehnen – oder vor dem Gebäude im Regen stehen.
Mitarbeiter der Staatssicherheit legten ihnen in Einzelverhören vorbereitete Geständnisse über die „Teilnahme an einer illegalen Demonstration“ zur Unterzeichnung vor, in einigen Fällen verbunden mit erkennungsdienstlicher Behandlung und Blutentnahme. Eine Rechtsbelehrung erfolgte nur in Einzelfällen. Zu Entlassungen kam es erst in der Nacht und den frühen Morgenstunden. Mehrere Personen wurden aber auch in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt ROTER OCHSE überführt.
Das Entsetzen über Willkür und Gewalt gegen unbescholtene Bürger war Anlass zur Gründung einer Mahnwache auf dem Gelände der halleschen Georgenkirche und einer Bürgerversammlung in der Pauluskirche mit der Forderung „Gewaltfreiheit für unsere Stadt“. Durch zahlreiche Hinweise von Besuchern der Mahnwache und Anrufern des Kontakttelefons wurde das ganze Ausmaß der Gewalt bei der Räumung des Marktplatzes und den Festnahmen im Umfeld sichtbar.
Auf Druck der Mahnwache und der Montagsdemonstrationen erklärte sich die Stadtverordnetenversammlung am 12. November 1989 zur Unterstützung einer unabhängigen Bürgerkommission zur „Untersuchung von Willkür und Gewalt im Demokratisierungsprozess“ bereit. Deren Abschlussbericht (siehe hier) dokumentiert das Geschehene und benennt die Verantwortlichen:
Die politische Verantwortung lag bei der SED, deren 1. Sekretär der Bezirksleitung den Vorsitz der Einsatzleitung hatte. Im Einsatz waren Volkspolizei, Staatssicherheit und paramilitärische „Betriebskampfgruppen“, deren Vorgehen sowohl DDR-Gesetze als auch die von der DDR unterzeichneten internationalen Menschenrechtsabkommen verletzte.
Die Mahnwache in der Georgenkirche dokumentierte das Geschehen unmittelbar durch die Sammlung von Zeugenaussagen.
Diese Zeitzeugnisse liegen heute im Archiv des Vereins Zeit-Geschichte(n). Vier Zeitzeugen sollen hier stellvertretend für viele andere zu Wort kommen:
„Andreas Friedrich besuchte am 7.10. mit einem Freund den Halle¬Basar. Vor dem Roten Turm sahen beide die Menschenansammlung und blieben aus Neugier stehen. Bei der gewaltsamen Räumung des Marktplatzes wurde er auf den Rücken und in den Magen geschlagen, so dass zwei Rippen brachen. In den Garagen musste er von 20 Uhr bis zum Nachmittag des 8. 10. mit erhobenen Händen stehen. Nach seiner Befragung wurde er in den Roten Ochsen gebracht. Nach erneuter Befragung erhielt er am 10. 10. das Urteil: 6 Monate Haft. Einen Rechtsanwalt konnte er nicht hinzuziehen. Am 13. 10. wurde Herrn Friedrich mitgeteilt, dass die Strafe zur Bewährung über 2 Jahre ausgesetzt wurde. Es folgte die Bemerkung: ‚Das ist eine Geste von uns.‘ Als er auf der Arbeitsstelle seinen Krankenschein abgab, wurde ihm mitgeteilt, dass es ihm frei stehe, sein Arbeitsverhältnis aufzulösen.“
Wilfried Völlger hat am 9. 10. folgendes beobachtet:„Gegen 19:20 Uhr wurde ich auf dem halleschen Marktplatz Zeuge von gewalttätigen Ausschreitungen einzelner Ange¬höriger der Volkspolizei. Insbesondere musste ich von meinem Standort Stadthaus/Ecke Schmeerstraße mit ansehen, wie ein junger Mann von drei Polizisten brutal zu¬sammengeschlagen und misshandelt wurde. Der junge Mann kam im Laufschritt aus Richtung Boulevard gelaufen und wurde etwa zwischen Händeldenkmal und Stadthaus von zwei Polizisten eingeholt, ergriffen, dann mit Gummiknüppeln vielfach geschlagen. Auch als der Mann wehrlos am Boden lag, schlugen die beiden Uniformierten weiter auf ihn ein, und ein dritter Polizist, der dazukam, schlug ebenfalls und trat mehrfach mit dem Stiefel den am Boden Liegenden in die Seite. Danach wurde der Mann weggeschleift. Das Geschehen vollzog sich etwa 20 –30 Meter entfernt von mir, dauerte etwa eine halbe Minute und war wegen der elektrischen Beleuchtung des Platzes präzise zu beobachten.“
Jens S. gab zu Protokoll: „Er wurde am 9. 10. auf dem Markt beim Umsteigen in die Straßenbahn ‚zugeführt‘ und in die Reideburger Str. gebracht. Weil er nach einer Zigarette fragte, musste er 8 Stunden im Freien stehen. Er wurde geschlagen mit den Worten ‚Ihr müsst endlich lernen, zu gehorchen.‘ Am nächsten Morgen wurde er gegen 10 Uhr durch das MfS und die Kripo verhört. Ebenso wurden von ihm Fingerabdrücke und Fotos gemacht.“
„Arno Genzel hatte am 9.10. am Mikrofon in der Marktkirche zum gewaltlosen Protest und zum Austritt aus den Massenorganisationen aufgerufen. Anschließend wurde er auf der Treppe zum Hallmarkt von 5 Sicherheitskräften zu Boden geworfen, mit Gum¬miknüppeln geschlagen und auf einen LKW geworfen. In den Garagen wurde ihm gegen die Beine getreten, weil er sich umdrehte, um zu sehen wie viele Menschen anwesend waren.“
Die Aufstellung der Gedenktafel am Rande der Stadt wurde begleitet von einer Veranstaltung in der Marktkirche.
Rund 300 Besucher sahen im Herbst 2019 den Überwachungsfilm, den das MfS am 9. Oktober 1989 auf dem Marktplatz aufgenommen hatte. Dieser Film war bisher nur einmal in einer Ausstellung des Vereins Zeit-Geschichte(n) zu sehen und wurde in dieser Form noch nie öffentlich aufgeführt. Vier Zeitzeugen kommentierten den Film und erläuterten insbesondere das, was auf den Bildern nicht zu sehen ist. Das MfS hat den Film vermutlich beschnitten, denn die Zeitspanne, in der die gewaltsame Räumung des Marktplatzes stattfand, ist nicht auf Band erhalten. Über das Geschehen im damaligen „Zentralen Zuführungspunkt“ berichteten Stefan Hellem und Anja Falgowski. Hellem war am 7. Oktober 1989 auf dem Marktplatz verhaftet worden und demonstrierte bereits am 9. Oktober wieder dort mit. Heute ist er Redakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk. Anja Falgowski war am 9. Oktober auf dem Marktplatz als zufällige Passantin verhaftet und in die Reideburger Straße gebracht worden. Heute ist sie als freie Redakteurin tätig. Über das Geschehen auf dem Marktplatz und in der Marktkirche sprachen anschaulich Wolfgang Schuster und Günther Buchenau. Schuster ist seit den 1980er Jahren engagiert bei der Ökologischen Arbeitsgruppe Halle, heute arbeitet er beim Umweltamt der Stadt Halle (Saale). Günther Buchenau war 1989 Superintendent des Kirchenkreises Halle und sprach auch über die innerkirchlichen Diskussionen zum Umgang mit den Oppositionsgruppen. Die Leiterin der BStU Außenstelle Halle (Saale), Marit Krätzer, bereicherte die Veranstaltung, indem sie an den entsprechenden Stellen die minuten-genauen Aufzeichnungen des MfS aus dem Lagebericht verlas. Zahlreiche Wortmeldungen von Zeitzeugen aus dem Publikum rundeten das Bild ab und bekräftigten, wie wichtig es ist, auch daran zu erinnern, dass die Friedliche Revolution nicht überall ganz so friedlich war.