Magdeburger Straße 35


(ehemals Hindenburgstraße 48, zuvor Magdeburger Straße 48)

Hier wohnten Henriette Jütel Silberberg geb. Bauchwitz und ihre Kinder Jechil Gustav und Emma Gertrud Silberberg sowie Julius Sommerich

Henriette Jütel Bauchwitz kam am 15. September 1860 in Kloster Zinna zur Welt. 1882 heiratete sie den Kaufmann Leopold Silberberg (*1858 in Halle), der 1881 das Geschäft „Leopold Silberberg Tuch- und Leinenlager sowie Manufakturwaren” gegründet hatte. Das Ehepaar bekam fünf Kinder: Sarah Clara (*1883), Henriette Therese (*1885), Abraham Adolf (*1886), Emma Gertrud (*1897) und Jechil Gustav (*1889).

Etwa um 1903 erwarb Leopold Silberberg das Haus in der Magdeburger Straße 48, woraufhin Familie und Geschäft dort einzogen. Silberbergs wohnten in einer großen Wohnung im Hochparterre. Sohn Gustav stieg später in das Geschäft ein, das fortan den Namen „Leopold Silberberg & Sohn” trug. Er wohnte ebenfalls an diesem Haus wie auch seine Schwester Gertrud, die hier eine Schreibstube und ein Vervielfältigungsbüro betrieb. Nach der Hochzeit 1921 zog auch Gustavs Ehefrau Sarah ein. 1932 starb Leopold Silberberg. Seine Frau Henriette stand nun dem Geschäft vor und arbeitete auch noch im hohen Alter ganztägig mit.

Im Zuge der Reichspogromnacht im November 1938 wurde Gustav Silberberg verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Im Dezember 1938 kehrte er nach Halle zurück. Im gleichen Jahr wurden Mutter und Sohn Silberberg zwangsenteignet: sie verlor das Haus, der Sohn das Geschäft. Neuer Eigentümer des Hauses wurde 1939 die „Neue Heimat – Gemeine Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft der DAF im Gau Halle-Merseburg GmbH“ – Nachfolgeorganisation der durch die Nationalsozialisten enteigneten Wohnungsbaugenossenschaft, die nun der Deutschen Arbeiterfront (DAF) zugeordnet war. Das DAF Gauheimstättenamt und der Deutsche Siedlerbund e.V. bezogen hier ihre Büroräume.

Henriette Silberberg, ihr Sohn Gustav und Schwiegertochter Sarah zogen daraufhin nach Leipzig. Henriette wohnte in der kleinen Wohnung von Tochter Therese, in der sie mit ihrem Mann und drei erwachsenen Töchtern untergekommen war. Die Familie war kurz zuvor aus Hof nach Leipzig gezogen, weil sie ihr dortiges, erfolgreich laufendes Geschäft verkaufen mussten und ihnen die Wohnung gekündigt wurde. An Juden wollte dort niemand mehr vermieten, so suchten sie andernorts eine Bleibe. Auch der Zuzug nach Halle wurde nicht genehmigt. Es blieb nur Leipzig, wo sie die Wohnung von polnischen Juden übernahmen, die kurz zuvor in der „Polenaktion“ deportiert worden waren.

Henriettes Sohn Gustav war laut Leipziger Adressbuch 1940/41 als Gartenarbeiter tätig und wohnte in der Kurprinzenstraße 6. Wahrscheinlich ist, dass er, wie auch Thereses Mann Max Franken, zur Zwangsarbeit verpflichtet und im Bereich Bau- und Gartengestaltung mit schweren Erdarbeiten beschäftigt war. Henriette, Gustav und Sarah Silberberg bemühten sich zwar um die Ausreise, doch blieben ihre Versuche erfolglos. In dieser Zeit verstarb Sarah Silberberg. Gustav ging im Mai 1941 mit Irma Meyer die zweite Ehe ein.

Am 21. Januar 1942 wurden beide gemeinsam mit Gustavs Schwester Therese Franken und deren Töchtern von Leipzig aus nach Riga deportiert. Im dortigen Lager Salaspils verliert sich die Spur des 52-jährigen Gustav Silberberg.

Gustavs Frau Irma Silberberg, Therese Franken und ihre Töchter wurden 1944 bei der Auflösung des Konzentrationslagers Kaiserwald in Riga auf dem Seeweg in das Konzentrationslager Stutthoff bei Danzig gebracht. Hier starb Therese Franken am 12. November 1944 im Alter von 59 Jahren.
Ihre Tochter Lore verstarb kurz nach der Befreiung. Ihre Töchter Margarete und Käthe überlebten die Zeit des Nationalsozialismus, ebenso wie deren Vater Max Franken, dem es 1941 als einzigem der Familie gelungen war, nach Südamerika zu entkommen. Auch Irma Silberberg überlebte und kehrte nach dem Krieg nach Leipzig zurück.

Henriette Silberberg wurde am 19. September 1942, wie auch 67 weitere Juden aus Halle, von Leipzig nach Theresienstadt deportiert, wo sie wenige Tage später, am 28. September 1942, im Alter von 82 Jahren starb.
Tochter Gertrud war 1939 die Flucht nach England gelungen, wo sie 1957 den in Halle geborenen Julius Fackenheim (Vater von Emil Fackenheim) (→Hansering 17) heiratete. Sohn Abraham Adolf Silberberg lebte als Kaufmann im bayerischen Hof. Er meldete sich im Ersten Weltkrieg freiwillig als deutscher Soldat und fiel 1915 im Alter von 28 Jahren. Tochter Sarah Clara heiratete 1902 den Kaufmann Simon Kahn aus Eschwege. Das Paar bekam Sohn Reinhard, der 1914 mit 8 Jahren verstarb.
Simon Kahn starb am 17. Februar 1944 in Theresienstadt. Wann seine Frau starb, ist unbekannt.
Eine Urenkelin von Henriette Silberberg lebte zum Zeitpunkt der Verlegung der STOLPERSTEINE 2021 in Bayern.

Im selben Haus wohnte der Handelsvertreter Julius Sommerich, der am 14. Januar 1878 im bayrischen Ottensoos geboren wurde. 1912 heiratete er die aus Pommern stammende Helene Ehmann (*10.1.1885 in Tempelburg). 1913 wurde der gemeinsame Sohn Karl Heinz geboren.
1917, während des Ersten Weltkriegs, an dem Julius Sommerich als Soldat teilnahm und dafür ausgezeichnet wurde, kam in Nürnberg die gemeinsame Tochter Lisa zur Welt. Im November 1938 wurde der inzwischen in Halle lebende Julius Sommerich für einen Monat in das Konzentrationslager Sachsenhausen gesperrt.
1939 starb in Halle seine Frau Helene, offizielle Todesursachse: Schlaganfall und Herzklappenfehler. Tochter Lisa, verheiratet mit dem halleschen Fabrikantensohn Hans Jovishoff (→Falkenweg 7), und Sohn Karl Heinz gelang die Flucht über die USA nach Palästina.

Der Witwer Julius Sommerich musste seine Wohnung verlassen und wurde von der Gestapo in das „Judenhaus“ Magdeburger Straße 7 (damals Hindenburgstraße 34) eingewiesen. Dort heiratete der 64-Jährige vor der Deportation die ebenfalls dort wohnende Edith Frenkel (→Blumenstraße 6). Am 1. Juni 1942 wurde das Ehepaar von Halle nach Sobibor deportiert und drei Tage später im Vernichtungslager mit Gas ermordet.

Sommerichs Urenkel Peter Jovishoff lebt heute in den USA.

Quellen

Stadtarchiv Halle (Saale), Nachlass Gudrun Goeseke

Volkhard Winkelmann und ehemaliges Schülerprojekt "Juden in Halle" des Südstadt-Gymnasiums Halle (Hrsg.): Unser Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle. 3. Auflage (2008)
Eintrag zu Henriette Jütel Silberberg
Eintrag zu Julius Sommerich
Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer des nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933-1945)
Eintrag zu Henriette Jütel Silberberg
Eintrag zu Gustav Jechil Silberberg
Eintrag zu Julius Sommerich