Rudolf-Ernst-Weise Straße 20


(ehemals Königstraße 62)

Hier wohnten Dr. Josef Schloß, Marie Klein geb. Schloß, Gretchen Schloß geb. Wiesengrund und Eva Schloß geb. Ambach

Die Gründerzeitvilla mit vielen Stallungen und Nebengebäuden war seit 1887 Wohnhaus der Familie Schloß. Die hier ansässige Viehhandlung von Moritz und Elise Schloß importierte und exportierte erfolgreich quer durch Europa, so dass Moritz Schloß bald als wohlhabender Mann galt. Seine Frau dirigierte den aufwändigen Haushalt. Für ihre jüdische Familie unterhielt sie zwei Küchen: eine koschere und eine nicht-koschere für die zahlreichen Geschäftsfreunde. Die gemeinsamen acht Kinder wuchsen in soliden, bürgerlichen Verhältnissen, aber auch mit starker Bindung an jüdische Traditionen und Religion auf: Simon (1866-1941), Josef (1867-1940), Hugo (1869-1918), Wilhelm (1873-1929), Balwine genannt Paula (1875-1972/England), Marie (1877-1943), Julius (1879-1918) und Frieda (1883–1980/Chile).

Nach dem Tod des Vaters 1907 führten die Söhne Simon und Wilhelm das Geschäft weiter. Simon und seine Frau Emma wohnten weiter in der Familienvilla. Wilhelm und seine Frau Gretchen zogen in das nahe gelegene Haus in der Maybachstraße 1. 1900 kam in Halle Tochter Anne zur Welt, 1902 folgte Sohn Johannes, der später ebenfalls Teilhaber der Viehhandlung war, und Tochter Vera (*um 1909). Sohn Josef, Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs, studierte Medizin und eröffnete eine Kinderarztpraxis. Tochter Marie heiratete den Arzt Dr. Albert Klein und bekam mit ihm drei Söhne.

Sohn und Kaufmann Julius heiratete 1911 in Berlin Luisa Kirschbaum-Springer, sie starb bereits 1914 im Alter von 25 Jahren, Witwer Julius starb 1918. Sohn Hugo Schloss blieb zeitlebens unverheiratet. Er starb 1918 in Halle. Tochter Paula heiratete 1897 den Kaufmann Josef Schüchterer, der 1932 starb. Paula gelang die Flucht nach England, wo sie bis zu ihrem Tod 1972 lebte. Frieda heiratete 1910 den Rechtsanwalt Dr. Max Lehmann. Sie flüchtete nach Südamerika, wo sie 1980 in Chile starb.

Nach dem Erlass der judenfeindlichen Gesetze geriet auch die Familie Schloß immer mehr unter Druck. Am 22.4.1938 wurde der 36-jährige Johannes Schloß (Sohn von Wilhelm und Gretchen Schloß) im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Im Juli 1938 kehrte er von dort nach Halle zurück. 1939 erfolgte die Scheidung von seiner Frau Johanna. Danach gelang es ihm, in die Niederlande zu flüchten, wo er 1984 in Amsterdam verstarb. Seinen Schwestern Anne und Vera gelang es ebenfalls zu flüchten.

Im Herbst 1938 entzog man dem unverheirateten Kinderarzt Dr. Josef Schloß, wie allen übrigen jüdischen Ärzten, die Approbation. Im April 1939 musste er auch die von seinem Vater geerbte Villa im Rahmen der sogenannten „Arisierung“ abtreten.
Am 14. Oktober 1940 machte Josef Schloß ein Testament, in dem er einen großen Teil des ihm verbliebenen Vermögens ausdrücklich seinen „nichtjüdischen“ Neffen, Großneffen und seiner „nichtjüdischen“ Großnichte vermachte, die nach dem Rassenwahn der Nationalsozialisten als „Halbjuden“ galten. Als sich der 73-jährige Josef Schloß am 25. November 1940 das Leben nahm, war seine Schwester Marie bei ihm und begleitete ihn durch die letzten Stunden.

Marie Klein, mittlerweile Witwe, wohnte nun wieder in der Villa. Auch Gretchen Schloß, deren Mann Wilhelm 1929 verstorben war, hatte in Durchsetzung der „Rassengesetze“ ihre Wohnung in der Maybachstraße 1 verlassen müssen und wohnte nun ebenfalls in der Villa. Nach dem Tod von Simon Schloß am 18. Dezember 1941, zog auch dessen Ehefrau Eva von Querfurt, wo das Ehepaar gelebt hatte, in die Villa. Die drei Frauen waren die letzten Mitglieder der Familie Schloß, die in der Villa lebten. Aber nicht sie allein. In den letzten Jahren hatten sie Freunde und Bekannte aufgenommen, die zur Aufgabe ihrer rechtmäßigen Wohnungen gezwungen worden waren. So wohnten hier der Bankier Alfred Katz (→Hansering 2), zwischenzeitlich auch dessen Tochter Gertrud mit drei Kindern, Fanny Aronsohn (→Lafontainestraße 5), Nathan und Minna Frankenberg (→Feuerbachstraße 74), Hermann und Selma Hellermann (→Rudolf-Breitscheid-Straße 14), die Familie Oppenheim (→Magdeburger Straße 28), das Ehepaar Charlotte und Theodor Weiß (→Puschkinstraße 30), Otto und Frieda Pollak und die Hausangestellte Rosa Salomon (→Ludwig-Wucherer-Straße 28).

Pläne der Gestapo, die Familienvilla zu einem „Judenhaus“ zu erklären, kamen laut eines Schreibens vom 1. September 1939 nicht zustande, weil der Gestapo die Kapazität bereits existierender „Judenhäuser“ ausreichend erschien. Am 18. April 1942 starb Hermann Hellermann. Am 1. Juni 1942 wurden Fanny Aronsohn, Rosa Salomon, das Ehepaar Weiß und die Oppenheims nach Sobibor bei Lublin deportiert und dort am 3. Juni 1942 mit Gas ermordet.

Am 26. Juni 1942 mussten Gretchen und Eva Schloß, Marie Klein, Nathan und Minna Frankenberg sowie Selma Hellermann die Villa verlassen und in das angebliche „Altersheim“ auf dem Grundstück des Jüdischen Friedhofs in der Boelckestraße 24 (heute Dessauer Straße) ziehen, von wo sie am 19. September 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden. Dort starb Gretchen Schloß am 25. Januar 1943 mit 66 Jahren.
Eva Schloß wurde am 15. Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert. Genaue Todesart und Todesdatum der 67-Jährigen sind unbekannt.
Marie Klein starb am 31. Mai 1944 mit 66 Jahren in Theresienstadt.

Weitere Informationen

Letzte Zuflucht Villa Schloß
Ein Film von Mathilde Kowalski, Juliane Radtke und Susanne Siegert (2018, 9 Min)
Entstanden im Rahmen des Projekts „Stolpersteine – Filme gegen das Vergessen“ des Masterstudiengangs MultiMedia & Autorschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2017
Das Leben in der Boelckestraße 24 – Auf den Spuren von Isidor und Frieda Hirsch
Ein Film von Inga Dauter, Doreen Hoyer und Elisabeth Schinner (2014, 13 Min)
Entstanden im Rahmen des Projekts „Stolpersteine – Filme gegen das Vergessen“ des Masterstudiengangs MultiMedia & Autorschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2014

Quellen

Martin Doerry: „Mein verwundetes Herz“. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944, München, 2004

Volkhard Winkelmann und ehemaliges Schülerprojekt "Juden in Halle" des Südstadt-Gymnasiums Halle (Hrsg.): Unser Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle. 3. Auflage (2008)
Eintrag zu Eva (Emma) Schloss
Eintrag zu Gretchen Schloss
Eintrag zu Dr. Josef Schloss
Eintrag zu Marie Klein