Hansering 2

(ehemals Poststraße)

 

Hier wohnte Alfred Katz

Im Haus am Hansering 2 befand sich neben dem Sitz des Bankhauses „Friedmann & Co” seit dem Jahr 1900 auch die Wohnung der Familie Katz.
Der Bankier Alfred Katz wurde am 20. April 1870 in Duderstadt geboren. Seine jüdischen Eltern waren religiös, tolerierten aber die liberalen Glaubensansichten ihrer insgesamt drei Söhne Gustav, Alfred und Max, Tochter Julie starb bereits mit 15 Jahren. Johanna und Moritz Katz waren wohlsituiert und in Duderstadt als Inhaber einer Bank angesehene Leute.
Das Bankgewerbe wurde in der Familie bereits seit mehreren Generationen ausgeübt. So strebte auch Alfred Katz diesen Weg an und lernte den Beruf in Meiningen und Berlin.
1896 heiratete er in Halle Helene Friedmann (*1872). Helenes Vater betrieb hier mit seinen zwei Brüdern erfolgreich einen Viehhandel.

Nach der Hochzeit stieg Alfred Katz zunächst für kurze Zeit in das Bankgeschäft seines Vaters in Duderstadt ein. 1897 wurde Tochter Gertrud geboren und das Ehepaar zog nach Halle. An der großen Stadt reizten Alfred und seine Frau die vielfältigen Möglichkeiten und kulturellen Angebote.
Gemeinsam mit seinem Schwager Julius Friedmann gründete Alfred Katz in Halle das Bankgeschäft „Friedmann & Co“, ansässig ab 1897 in der Leipziger Str. 36. Im Jahr 1900 zog die Bank in das leerstehende Gebäude in der Poststr. 2 (heute Hansering 2).

1901 bekamen Alfred und Helene Katz ein weiteres Kind, Sohn Hans Herbert.
Die Kinder hatten eine sorgenfreie Kindheit. Nur erinnerte sich Gertrud daran, dass sie einmal zu einem Kindergeburtstag nicht eingeladen wurde, nur weil sie Jüdin war.

Alfred Katz führte die Bank erfolgreich und war ab 1907 alleiniger Inhaber. Seine beruflichen Aktivitäten erstreckten sich auch auf weitere Unternehmen, so war er Aufsichtsratsvorsitzender der Mitteldeutschen Zigaretten-Fabrik AG und nach wie vor Gesellschafter im Bankhaus seines Vaters in Duderstadt. Er engagierte sich auch gesellschaftlich und wurde 1903 zum Geschworenen am Schwurgericht Halle ernannt und 1908 zum Wahlmann für das Abgeordnetenhaus gewählt, die zweite Kammer des Preußischen Landtags. Aus den damaligen Zeitungen geht hervor, dass er regelmäßig für gemeinnützige Zwecke spendete.
Helene Katz war zu Hause und versorgte die Kinder. Sie kochte gut und lehrte es auch ihre Tochter. Alfred Katz spornte seine Kinder zu schulischem  Ehrgeiz an, er wollte auch seiner Tochter später den Besuch der Universität ermöglichen. Gertrud erinnerte sich an Alfred als einen äußerst humorvollen und liebevollen Vater.
Alfred Katz machte mit seiner Familie Wanderausflüge im Harz und sorgte auch für die musikalische Bildung der Kinder. Gertrud wurde nach Lausanne in der Schweiz geschickt, wo sie ein Jahr an einer Schule für höhere Töchter absolvierte. Dort wurde u.a. Französisch, Handarbeit und Tennis unterrichtet. Sie knüpfte dort viele Freundschaften mit Mädchen aus der ganzen Welt, darunter auch mit Mary Haldinstein, später verheiratete Caro, aus Norfolk in Großbritannien, die ihr später das Leben retten sollte.

1920 heiratete Gertrud den Juristen Dr. Willy Cohn (-> STOLPERSTEIN Rudolf-Ernst-Weise-Str. 5), der in das Bankgeschäft einstieg und Teilhaber wurde.
Die drei Enkelkinder Eva (*1921) und die Zwillinge Hanna und Hans (*1928) bereiteten Alfred Katz und seiner Frau große Freude.

1931 konnte die Bank „Friedmann & Co“ wie viele andere kleine, private Banken der Weltwirtschaftskrise nicht standhalten und musste schließen. Alfred Katz und seine Frau hatten jedoch Rücklagen und konnten auch in ihrer Wohnung bleiben. Die Räume im Erdgeschoss wurden nun als Büroräume vermietet.

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Helene und Alfred Katz mit den drei Enkeln Eva, Hans und Hanna ca. 1929

Im Jahr der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wanderte Alfred Katz Sohn Herbert nach Palästina aus. Er berichtete der Familie postalisch von den dort herrschenden schwierigen Lebensbedingungen, so dass eine zunächst erwogene Auswanderung seiner in Halle verbleibenden Familie erst einmal nicht weiter verfolgt wurde.
1935 ließ sich Gertrud von ihrem Mann scheiden und zog mit den drei Kindern wieder zu ihren Eltern Alfred und Helene Katz. Die Poststraße hieß schon lange nicht mehr so, 1927 war sie zum Preußenring geworden, nun hieß sie Adolf-Hitler-Ring (heute Hansering).

Helene Katz war in den letzten Lebensjahren auf die Hilfe ihrer Tochter angewiesen, sie starb im Mai 1938 nach schwerer Krankheit und wurde auf dem jüdischen Friedhof begraben.
Nun überschlugen sich die Ereignisse. Im Herbst 1938 war Alfred Katz gezwungen, seine Wohnung am heutigen Hansering zu verlassen. Sein Haus gehörte nun dem Rechtsanwalt Herbert Limann, die Bank der Deutschen Arbeit nahm dort ihre Tätigkeit auf. Alfred Katz, seine Tochter Gertrud und die Kinder fanden Zuflucht in der Villa der befreundeten Familie Schloß, Königstraße 62 (STOLPERSTEINE Rudolf-Ernst-Weise-Straße 20).

Alfreds Schwiegersohn Willy Cohn, zu dem die Familie trotz Scheidung weiter ein gutes Verhältnis hatte und der nur ein paar Häuser weiter wohnte, war nach der Pogromnacht am 9. November 1938 wie viele tausend andere jüdische Männer in Deutschland verhaftet worden. Knapp einen Monat verbrachte er im KZ Buchenwald.
Als Ende 1938 nun auch jüdische Kinder aus den Schulen gedrängt wurden und sich die gesamte Lebenssituation für Juden stark verschlechterte, suchte die Familie nach Möglichkeiten zur Emigration.

Die älteste Enkelin Eva war inzwischen 17 Jahre alt und versuchte über Ausbildungsvisa nach Australien oder Großbritannien zu gelangen. Hilfe kam von Gertruds Schulfreundin Mary Caro, zu der sie seit dem Schuljahr in Lausanne Kontakt gehalten hatte. Sie besorgte Eva eine Ausbildung zur Krankenschwester und damit ein Visum für England. Obwohl Eva eher in die kaufmännische Richtung strebte, nahm sie das Angebot an und verließ Deutschland im Mai 1939. Gertrud bemühte sich gleichzeitig um Plätze auf einem „Kindertransport“ nach England für die Zwillinge Hanna und Hans. Hanna hatte die Luisenschule besucht und dort schon etwas Englisch gelernt. Hans war seit April 1938 im Internat der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem bei Hannover, wo die Kinder auf eine spätere Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden.
Mary Caro half auch hier von England aus, sie übernahm die Bürgschaft für die Zwillinge und sorgte dafür, dass sie auf die Liste kamen. Sie beschleunigte den Vorgang zusätzlich, in dem sie angab, die Bürgschaft gelte nur, wenn die Zwillinge mit dem nächsten Transport kommen könnten.
Fünf Tage vor dem Reisetermin kam eine Nachricht, dass die Zwillinge mit dem 20. Kindertransport ausreisen können, sie waren zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt.  
Der Zug verließ Halle am 4. Juli 1939, in Hannover stiegen die halleschen Kinder in den aus Berlin kommenden Zug um. In Holland wurden die Kinder an den Bahnhöfen freudig begrüßt, erhielten Verpflegung und bestiegen ein Schiff, das nach England übersetzte. Ein berühmt gewordenes Foto zeigt Hanna Cohn mit ihrer Puppe „Evelyn“ im Arm am Londoner Bahnhof Liverpool Station, wo Mary Caro die Kinder abholte. Auf dem Foto neben ihr sitzen zwei Mädchen aus Breslau, die auch im Transport waren. Das Foto zierte am folgenden Tag die Titelseiten einiger Zeitungen.
Im Gepäck hatte jeder der Zwillinge auch ein Fotoalbum, angefertigt von ihrem Vater Willy. Darin viele Familienfotos, von ihm mit Hand beschriftet. Hannas Exemplar wird heute im Imperial War Museum in London aufbewahrt.

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Hans, Eva und Hanna Cohn um 1936 am Hansering

Gertrud wollte zwar ihren Vater Alfred Katz nicht in Halle allein lassen, fühlte sich aber auch für die Kinder verantwortlich. Als sie nun über Mary Caro eine Stelle als Gesellschafterin für deren Mutter und damit eine Aufenthaltserlaubnis für England erhielt, zögerte sie nicht.

Die zu erledigende Bürokratie vor der Ausreise war gepflastert mit diversen Schwierigkeiten. So ließ das Visum auf sich warten, doch ein persönlicher Besuch von Gertrud gemeinsam mit ihrem Vater Alfred im britischen Konsulat Berlin löste das Problem.
Am 11. August, drei Wochen vor Kriegsausbruch, verließ Gertrud Deutschland. Vorausgeschickt hatte Gertrud Kisten mit Wäsche und Porzellan, Familienandenken und Habseligkeiten. Ihr Vater Alfred Katz verabschiedete sie am Hamburger Hafen, er war traurig und glücklich zugleich, dass sie ausreisen konnte.

Mit seinen Kindern hielt er postalisch Kontakt. Da seit dem Kriegsausbruch private Briefe zwischen England und Deutschland nicht befördert wurden, konnten nur knappe Botschaften auf Vordrucken des Roten Kreuzes gewechselt werden, die wochenlang unterwegs waren.  Man behalf sich, indem man an die befreundete Familie Schwabach in New York schrieb, die die Briefe nach England weiterleitete. Alfred Katz berichtete darin von seinem Alltag in Halle, der geprägt war vom Miteinander der verschiedenen Bewohner in der Schloß-Villa und über das Befinden von hier gebliebenen Verwandten und Freunden, er erkundigte sich immer wieder nach den Enkeln und erbat Fotos.

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Alfred Katz im Garten seines Bruders Gustav in Auerswalde bei Chemnitz

Im Mai 1941 bekam Alfred Katz, der nun ganz auf sich allein gestellt war, die Anweisung, in das angebliche „Jüdische Altersheim“ am Jüdischen Friedhof in der Dessauer Straße 24 (damals Boelckestraße) zu ziehen. In Wahrheit pferchte man hier jüdische Hallenser auf engstem Raum bis zu ihrer Deportation zusammen.  Im Mai 1941 schrieb er an seine Familie „Ich werde demnächst in ein hier neu gebautes Altersheim gehen, wogegen ich nichts habe, wenn ich nur ein kl. Zimmer für mich allein bekomme. (…) Leiterin wird eine Dame, mit der ich mich sehr angefreundet hatte, mit der ich im vorigen Jahr viel in die Heide ging. Das Heim ist in der Boelckestraße, um- & angebaut an die frühere Halle.“

Im September 1941 schrieb er erneut: „Ich bin nun schon 4 Wochen wieder in meiner alten Behausung und froh, nicht mehr im sogenannten Altersheim zu sein, wo es mir gar nicht gefiel. Jetzt werde ich so gut betreut, wie ich von der lieben Trudy betreut wurde.“

Im November 1941 schrieb er an Albert Schwabach: „Trudy soll sich nur keine Vorwürfe machen. Es ist schon richtig, dass die Mutter zu den Kindern gehört und es wird ihnen zusammen hoffentlich immer gut gehen. Trudy und Herbert waren immer sehr gute Kinder, auf die die Eltern stolz sein konnten. Weiter können sie nichts tun, es wird ihnen hoffentlich von ihren Kindern vergolten werden.“

Im Dezember 1941 schilderte Alfred, dass er erneut ins Altersheim ziehen musste. Er war unglücklich, weil er sich dafür nicht eigne und das Altersheim inzwischen auch als Siechenheim fungiere. Es sei schwierig, die Erlaubnis zu bekommen, das Gelände wieder zu verlassen. Er beruhigte die Familie aber auch, er habe mit seinem Vetter Jakob Friedmann ein Zimmer mit Blick in den Garten.

Nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg am 11. Dezember 1941 konnten über den Umweg USA keine Briefe mehr zwischen Halle und England gewechselt werden. Am 25. April 1942 schrieb Alfred über das Rote Kreuz die letzte Nachricht, die die Familie erreichte: „Befinden zufriedenstellend. Oma Else, Käte, Karl verreist. Grete, Kuno, Ehefrau Lucie, Müllers Betreuerin Loeb demnächst. Jules Schwager gestorben. Bleibt gesund. Innigste Wünsche Euch Allen“
Grete, Kuno und Lucie, Frau Loeb – sie und 151 weitere Hallenser hatten Mitte April die Nachricht ihrer bevorstehenden „Umsiedlung“ erhalten. Sie wurden am 1. Juni 1942 von Halle in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und sofort nach Ankunft ermordet. Viele von Alfreds Freunden und Bekannten waren nun fort.

Am 26. Juni 1942 mussten auch die letzten Bewohner der Familienvilla Schloß in das angebliche „Altersheim“ ziehen.
Am 29. Juni 1942 wurde der 72-Jährige Alfred Katz in der Königstraße 62 tot aufgefunden. Er hatte sich selbst das Leben genommen.

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Der Sohn von Alfred Katz,  Rechtsanwalt Dr. Herbert Katz lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1971 mit Frau und Tochter in Israel.
Tochter Gertrud und die drei Enkel überlebten den Zweiten Weltkrieg in England. Gertrud starb 1975.

Sein Schwiegersohn Willy Cohn war im August 1939 nach Belgien geflüchtet. Dort wurde er jedoch festgenommen und in Saint Cyprien,  Gurs und Drancy interniert. Von dort wurde er am 10. August 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet. (-> STOLPERSTEIN Rudolf-Ernst-Weise-Str. 5)
Alfreds Bruder Gustav, von Beruf praktischer Arzt, starb am 27. April 1942 in Auschwitz. Alfred Katz hatte ihn noch bis 1941 regelmäßig in Auerswalde bei Chemnitz besucht. Eines seiner fünf Kinder starb 1942 im KZ Sachsenhausen. Sein Bruder Max gelangte rechtzeitig in die USA, wo er bis zu seinem Tod 1953 lebte. Dessen drei Söhne starben 1942 in Auschwitz.

Quellen und weiterführende Informationen:

Enkelinnen von Gertrud und Willy Cohn, Helen und Debora Singer

Stadtarchiv Halle, insbesondere Nachlass Gudrun Goeseke und Nachlass Volkhard Winkelmann 

Hallesche Adressbücher

Arolsen Archives

Mystery of Holocaust escape girls solved after 84 years: https://www.bbc.com/news/uk-england-tyne-66040197

Volkhard Winkelmann und ehemaliges Schülerprojekt "Juden in Halle" des Südstadt-Gymnasiums Halle (Hrsg.): Unser Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle. 3. Auflage (2008)
Eintrag zu Alfred Katz