Elbestraße 34


(ehemals Lettiner Straße)

Hier wohnten Isidor Lewin sowie Alfred und Elsbeth Silberberg geb. Lewin

Der Kaufmann Isidor Lewin (*2.2.1863 in Graudenz/Westpreußen) und seine Frau Rahel Lewin geb. Bluhm (*1867 in Groß Sibsau/Westpreußen) hatten zusammen sieben Kinder, die alle in Graudenz zur Welt kamen: Max (*1888), Hugo (1890-1933), Betty (1891-1979), Frieda (1893-1943), Elsbeth Rose (1897-1943), Darga (1900-1945) und Margot (*1907).
Rahel entstammte selbst einer großen Familie – sie hatte 12 Geschwister, von denen mehrere in Halle und Umgebung lebten.
1920 wurde die Region um ihre Heimatstadt Graudenz nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages der Republik Polen zugesprochen (sog. Polnischer Korridor). Etwa um diese Zeit kam die Familie nach Halle.

Isidor und Rahel Lewin wohnten zunächst in Nietleben, in der Eislebener Straße 81, wo sie auch ein Ladengeschäft betrieben. Hier lebten sie zusammen mit ihrer Tochter Elsbeth (*10.5.1897) und deren Mann Alfred Silberberg (*12.5.1898 in Bassum bei Bremen), bevor sie 1932 nach Dölau zogen.
In der dortigen Cröllwitzer Straße 30 (heute Stadtforststraße) hatte Alfred Silberberg, gelernter Damenschneider und Textileinzelhändler, ein Geschäft übernommen. Isidor Lewin ging nun mit 70 Jahren in den Ruhestand.
Zunächst wohnte die ganze Familie in der Elbestraße 10, im ersten Stock, zog aber nach kurzer Zeit schon um in eine Wohnung neben dem Laden in der Elbestraße 34. Alfred übernahm nun dieses Geschäft und bot hier Textil- und Kurzwaren an. Den Laden in der Cröllwitzer Straße 30, die nun schon in Hermann-Göring-Straße umbenannt worden war, gab er auf. Elsbeth war ausgebildete Putzmacherin und arbeitete im Laden mit.

Auch Rahel Lewin stand hinter dem Ladentisch, davon zeugen Erinnerungen Dölauer Zeitgenossen.
Hans-Dieter Marr berichtet:
Dorthin schickte mich meine Mutter. Sie war Handarbeitslehrerin und brauchte Stickgarn. Mit meinem 4-jährigen Cousin Klaus ging ich zu Lewin, wie es im Dorf hieß, im Laden stand Frau Lewin. Als ich ihr die Muster zeigte, drehte sie sich zum Regal um und suchte die Garne. Auf dem Verkaufstisch standen eine Reihe offener Schachteln mit Knöpfen unterschiedlichster Art. Mein Cousin machte am Tisch Klimmzüge und griff mit seinen kleinen Fingern in die Knopfschachteln. Der Inhalt kippte heraus und landete auf dem Fußboden. Da lagen nun hunderte Knöpfe, große, kleine, bunte, alle durcheinander. Natürlich bückte ich mich sofort, um die Knöpfe aufzulesen. ‚Um des Himmels willen, lass das mein Junge, das musst du nicht tun! Steh bitte wieder auf!‘ sagte sie wohl erregt zu mir.
Von einem Freund bekam er später zu hören, dass sich ein deutscher Junge nicht vor einer Jüdin erniedrigen und auf dem Boden herumkriechen solle.

Der bekannte Schauspieler Hilmar Thate, aufgewachsen in Dölau, erinnert sich in seiner Autobiographie, dass beobachtet wurde, wer in Silberbergs Laden ging. Es sei nicht gern gesehen gewesen. Er hatte seine Oma mehrfach in den Laden begleitet, wo sie mit Herrn Silberberg gern ein Schwätzchen gehalten hatte.

Rahel Lewin verstarb am 17.10.1936.
Sie hielt sich zu diesem Zeitpunkt in der Region Bremen auf, wo Verwandte ihres Schwiegersohnes Alfred Silberberg lebten. Beigesetzt wurde sie auf dem Jüdischen Friedhof Bremen.
Elsbeth war zu diesem Zeitpunkt guter Hoffnung, doch nur wenige Tage, nachdem die Nachricht vom Tod der Mutter zu ihr gedrungen sein muss, erlitt Elsbeth die Totgeburt ihres Sohnes.

Im Sommer 1938 wurden die Verhältnisse in Dölau für die Familie so unerträglich, dass sich Elsbeth und Alfred um eine Auswanderung bemühten.
Sie sprachen deshalb bei der Jüdischen Gemeinde in Halle vor, die sich dann bei der Auswandererberatungsstelle Leipzig des Hilfsvereins der Juden in Deutschland um eine Ausreisemöglichkeit bemühte.

In einem Schreiben der Gemeinde vom 11.8.1938 an die Beratungsstelle Leipzig heißt es:

„Wir teilen Ihnen mit, dass sowohl Herr als auch Frau Silberberg den besten persönlichen Eindruck machen. Frau Silberberg macht einen peinlich sauberen, gepflegten Eindruck, sie behauptet, ihre Kleidung mit Hilfe ihres Mannes völlig selbst herzustellen. Der äussere Eindruck des Herrn S. ist ebenfalls gut.
Die Eheleute S. lernen seit einiger Zeit Englisch. Wir haben ihnen empfohlen, an den in den nächsten Tagen in unserer Gemeinde beginnenden engl. Sprachkursen teilzunehmen. Der Gesundheitszustand von Frau S. ist ein guter. Herr S. soll an einem Gicht- und Nierenleiden leiden. (…) Er ist jedoch in der Lage, jede Arbeit zu verrichten, bis auf die wenigen Tage, an denen er Gicht- oder Nierenanfälle hat.
Wir sind davon überzeugt, dass die Eheleute S. sich in jede neue Umgebung ohne Schwierigkeiten einordnen werden, und weisen nochmals darauf hin, dass Frau S. eine sehr strebsame Frau ist, die von jeder ihr angebotenen Erwerbsmöglichkeit Gebrauch macht.“


Die Auswanderungsberatungsstelle dämpfte jedoch Silberbergs Hoffnungen:
Die Familie hatte praktisch keine finanziellen Rücklagen, die für eine Auswanderung im Aufnahmeland vorgewiesen werden mussten.
Elsbeths Schwester Margot lebte zwar in Holland, konnte sie jedoch aufgrund der eigenen Lage nicht unterstützen. Ein Neffe war kürzlich nach Buenos Aires ausgewandert, war dort aber selbst Hilfeempfänger. Weitere mögliche Unterstützer oder Bürgen gab es nicht. Auch die mangelnden Sprachkenntnisse und Alfreds Gesundheitszustand wurden als nachteilig angesehen. Die Auswanderung gelang nicht.

Nur wenig später, Mitte November 1938, zogen Isidor Lewin, Elsbeth und Alfred Silberberg nach Leipzig. Über den konkreten Anlass kann nur spekuliert werden.
Laut der Erinnerungen von Hans-Dieter Marr soll es in zeitlichem Zusammenhang mit der Pogromnacht am 9.11.1938 in Dölau zu einem bedrohlichen Vorfall gekommen sein. Die SA habe mit Hilfe einer Feuerwehrleiter und vor zahlreichen Augenzeugen die im Obergeschoss liegenden Fenster der Wohnung eines jüdischen Ehepaares schwarz angemalt. Bisher gelang es nicht, zweifelsfrei aufzuklären, ob es sich um die Wohnung der Familie Silberberg/Lewin gehandelt hat. Vorliegenden Erkenntnissen zufolge war diese aber, neben Prof. Laqueur in der Hufelandstraße 32 (→ Stolperstein), die letzte jüdische Familie im Ort.
Jedenfalls wurde innerhalb kurzer Zeit das Geschäft geschlossen und Silberbergs zogen in die Nordstraße 56 im Leipziger Waldstraßenviertel. Hier wohnten sie in einer Umgebung mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil und waren nun nicht mehr die einzigen Juden im Ort.

Elsbeths Vater Isidor, nun bereits 75 Jahre alt, fand Aufnahme in einer jüdischen Pflegeeinrichtung in der Leipziger Färberstraße 11, wo sich im Hinterhof seit 1921 die Beth-Jehuda-Synagoge befand. Sie war in der Pogromnacht schwer verwüstet worden und diente jetzt als jüdisches Obdachlosen- und Pflegeheim.

Währenddessen hatte das Geschäft in Dölau neue Besitzer gefunden. „Kurz-, Weiß- und Modewaren“ wurden hier nun von Familie Elle angeboten.

Um den Lebensunterhalt der Silberbergs war es in Leipzig schlecht bestellt.
Alfred erhielt aufgrund seines Gicht- und Nierenleidens lediglich eine Rente der Angestelltenversicherung in Höhe von 40 Reichsmark. Bevor er selbstständiger Kaufmann wurde, war er im Modeatelier des Bremer Seidenhaus Koopmann sowie im Berliner Modeatelier Wilk angestellt gewesen. Das kam ihm jetzt zugute. Weiteres Einkommen hatte die Familie nicht. Nur von Elsbeths Geschwistern kam dann und wann finanzielle Hilfe. Zuletzt musste das Ehepaar Zwangsarbeit leisten, Alfred im Gartenbau, Elsbeth im Geschäft "Rauchwaren Fritz Enderlein" in der Reichsstraße.

Ein Hilfegesuch Alfreds im Frühjahr 1939 an die Jüdischen Gemeinden in Halle und Leipzig verdeutlicht die Not: Er bat um Unterstützung bei der Begleichung von Rechnungen dringend notwendiger Zahnarztbesuche in Höhe von 90 Mark. Beide Gemeinden erklärten jedoch die jeweils andere Gemeinde für zuständig und lehnten ab.

Am 19.9.1942 sollte Isidor Lewin in das KZ Theresienstadt deportiert werden. Sein Name wurde jedoch von der Transportliste gestrichen, vermutlich wegen seines altersbedingten Gesundheitszustandes. Knapp zwei Wochen später, am 2.10.1942, verstarb er mit 79 Jahren.

Elsbeth und Alfred Silberberg wurden am 16.2.1943 in die Volksschule in der Yorckstraße 2/4 gebracht, die in Leipzig als Sammellager diente. Am 17.2.1943 wurden sie zusammen mit 143 anderen Juden von dort nach Berlin transportiert, wo sie neun Tage in der dortigen Sammelstelle in der Großen Hamburger Straße verbringen mussten. Am 26.2.1943 wurden sie auf einen Transport in das Konzentrationslager Auschwitz geschickt. Dieser Transport umfasste insgesamt 1100 Menschen, darunter 190 aus Mitteldeutschland.
Am 27.2.1943 kam der Zug in Auschwitz an. Hier erhielten von den 1100 Deportierten nur 156 Männer und 106 Frauen eine Häftlingsnummer, 838 Menschen sind sofort ermordet worden.
Von Elsbeth und Alfred Silberberg fehlt seither jede Spur.

Auch Alfreds fünf Geschwister und deren Familien wurden Opfer des Holocausts. Nur zwei von Elsbeths Geschwistern überlebten den Holocaust: Margot, die gemeinsam mit ihrem Mann Max Hirsch in Utrecht auf einem Dachboden versteckt war sowie Betty, die 1923 in Nietleben Martin Hirsch geheiratet hatte und später in die USA auswandern konnte.

Quellen und weiterführende Informationen

 

Stadtarchiv Halle, Nachlass Gudrun Goeseke

Stadtarchiv Leipzig

Sächsisches Staatsarchiv Leipzig

Adressbücher Halle und Saalkreis

Archiv der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig

Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933–1945 des Bundesarchivs

Arolsen Archives

Centrum Judaicum Berlin

Geburtsregister Graudenz

Karsten Mettendorf: Juden in Dölau. In: Dölauer Zeitung (http://halle-doelau.de/)

Hans-Dieter Marr: Erinnerungen an das Jahr 1938 und die Juden in Dölau (Mai 2016, Archiv Zeit-Geschichte(n) e.V.)

Hilmar Thate: Neulich, als ich noch Kind war. Autobiographie, Lübbe Verlag, 2006, S. 30-32.

Sammlungsdatenbank des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig

Link mit Informationen zur ehem. Beth-Jehuda Synagoge in Leipzig: https://www.jewish-places.de/de/DE-MUS-975919Z/walk_station/d1559aa2-8ac7-4786-9fe4-6639734564ed/8afdd4bb-4e80-46a9-9401-bfed8bdebbe8

Über Margot Hirsch geb. Lewins Überleben im Versteck in Holland:  https://www.vierklank.nl/nieuws/algemeen/29896/tijsma-onderzoekt-geschiedenis-joodse-bevolking