Mühlweg 36


Hier wohnten Yedidia Geminder und Frieda Riesel

Yedidia Geminder wird von seiner Tochter Irene als heiterer, zuversichtlicher Mensch beschrieben, der viele Lieder kannte und gern vor sich hinsang. Geboren am 21. Februar 1892 in der polnischen Kleinstadt Mielec, gelangte er über Österreich und Holland nach Deutschland, wo er Helene Gänger, eine gebürtige Leipzigerin, heiratete und mit ihr nach Halle zog. Hier kamen die beiden Töchter Lore (*1923) und Irene (*1929) zur Welt.

Am Reileck führte Yedidia Geminder einen Wollwarenladen. Als eine verwitwete Schwester seiner Frau starb, nahm die Familie das älteste der drei verwaisten Kinder, die 1920 geborene Frieda Riesel, bei sich auf. Bruder Heinz Riesel kam bei seiner Tante Hanna Lipper und deren Familie in der Großen Märkerstraße 13 unter (→Große Märkerstraße 13). Schwester Senta Riesel wohnte bei ihrer Tante Rosa Kanner und deren Familie (→Geiststr. 15).

Ende 1938 lief Yedidia Geminders Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland aus, es drohte die Abschiebung nach Polen. Yedidia Geminder bemühte sich um die Auswanderung für sich und seine Familie, aber es war schon zu spät. Völlig unvorbereitet wurde die Familie in der Nacht vom 27. zum 28. Oktober 1938 im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ aus ihrer Wohnung geholt. Gemeinsam mit mindestens 120 weiteren Juden brachte man sie von Halle ins deutsch-polnische Grenzgebiet und setzte sie am Grenzstreifen nach Polen aus. Dort irrte die Familie durchs nächtliche Niemandsland, vorbei an polnischen Wachposten, die Befehl hatten, die Juden wieder zurück nach Deutschland zu schicken. Am Ende gelang es ihnen, sich nach Mielec, den Geburtsort des Vaters durchzuschlagen.

Dreieinhalb Jahre später, am 9. März 1942, begannen auch in Mielec die Deportationen. Alle Juden mussten sich auf dem Marktplatz versammeln. Junge Männer wurden für die Arbeit selektiert, Alte und Kranke erschossen, die anderen aus der Stadt getrieben. Es war der erste von mehreren Todesmärschen, den die Familie überstand. Es folgten Transporte in Viehwaggons, Aufenthalte in Flugzeughallen und zwei Monate in Sosnowiec, einem kleinen Ort an der Straße zum Vernichtungslager Sobibor.

Yedidias Schwager Reuben, der Mann seiner Schwester Feige, war Mitglied des Judenrates. Ihm gelang es, die Geminders nach Radomysl, einem kleinen Ort in der Nähe von Mielec, zurückzuholen. Dann wurden sie auch dort vertrieben. Wieder mussten sie auf dem Marktplatz antreten. Es wurde abgezählt und jeder zehnte erschossen. Die nächste Station war das Ghetto von Debica mit Selektionen, Erschießungen und Zügen nach Auschwitz. Frieda Riesel, inzwischen 22 Jahre alt, arbeitete außerhalb des Ghettos in einer deutschen Amtsstube. Sie hoffte, dass ihre deutschen Arbeitgeber sie vor der Deportation schützen würden.

Im Oktober 1942 wurde das Ghetto Debica „geräumt“. Als Mitglied des Judenrates war es Schwager Reuben gestattet, zu bleiben. Für die anderen war ein Versteck vorbereitet. Sie ließen sich von Reuben auf einem Dachboden einmauern, eine Frau hielt ein Baby im Arm. Sie standen stundenlang, atemlos. Als die Deutschen abzogen und das Versteck geöffnet wurde, war das Baby tot, erstickt in den Armen der Mutter.
Frieda Riesel, die auf den Schutz „ihrer Deutschen“ hoffte, ging nicht mit ins Versteck. Sie war unter denen, die nach Auschwitz gebracht wurden. Das letzte Lebenszeichen von ihr überbrachte ein junger Mann, der sie überreden wollte, mit ihm gemeinsam aus dem Deportationszug zu springen. Sie hatte aber allen Mut verloren, berichtete er.

Jetzt wusste auch Yedidia Geminder nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Immer war er es gewesen, der alle ermutigt und zusammengehalten hatte. Die zwölfjährige Irene wollte weg. Sie hoffte, dass ihre blonden Haare ihr helfen würden, nicht als Jüdin erkannt zu werden. Unterstützt von der Mutter, aber ohne Wissen des Vaters, der allen Familienmitgliedern das Versprechen abgenommen hatte, zusammen zu bleiben, was immer auch geschehe, fuhr sie mit dem Zug zurück nach Mielec und hoffte auf die Hilfe von Polen, die sie dort noch kannte. Nach zwei vergeblichen Versuchen, bei denen sie zurück in Nacht und Kälte gejagt wurde, nahm sich eine polnische Familie, die zeitweilig ihre Nachbarn gewesen waren, ihrer an. Sie versteckten das Kind in ihrem Hühnerstall. Dort blieb das Mädchen 22 Monate lang bis zur Einnahme von Mielec am 6. August 1944 durch die Rote Armee.

Helene Geminder und ihre älteste Tochter Lore brachte man in das Konzentrationslager Plaszow, jenes von Amon Göth geführte Lager aus dem Oskar Schindler seine Arbeitskräfte rekrutiert hatte. Sie entgingen der Ermordung, weil sie auf der später so berühmt gewordenen „Schindlers Liste” standen.
Dem 51-jährigen Yedidia Geminder, seiner 40-jährigen Schwester Feige und deren 14-jähriger Tochter Esther gelang es noch, sich in dem 30 km vor Debica gelegenen Zwangsarbeitslager Cyranka-Berdechow zu verstecken, sie wurden dann aber von Lagerspitzeln verraten und von Deutschen erschossen.

Frieda Riesels jüngere Geschwister Senta und Heinz wurden ebenfalls aus Halle vertrieben und ermordet. (→Geiststraße 15) Nach dem Krieg trafen die inzwischen 15-jährige Irene, ihre Mutter Helene und ihre Schwester Lore in Krakau wieder zusammen. Helene Geminder heiratete 1946 ihren Schwager Heinrich Padawer und siedelte in die USA über, wo sie 1972 im Alter von 71 Jahren starb. Auch Lore Smith geborene Geminder lebte in den USA. Sie verstarb 2012. Irene Eber geborene Geminder lebt in Jerusalem und war Professorin für chinesische Sprache und Literatur an der dortigen Universität. Ihre Lebenserinnerungen wurden 2007 in Deutschland veröffentlicht.

Weitere Informationen

The Journey – Der Weg der Irene Eber
Ein Film von Evi Lemberger und Maria Göckeritz (2015, 36 Min)
Entstanden im Rahmen des Projekts „Stolpersteine – Filme gegen das Vergessen“ des Masterstudiengangs MultiMedia & Autorschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2015

Quellen

Irene Eber: Ich bin allein und bang. Ein jüdisches Mädchen in Polen 1939 -1945. München, 2007
Stadtarchiv Halle (Saale), Nachlass Gudrun Goeseke

Volkhard Winkelmann und ehemaliges Schülerprojekt "Juden in Halle" des Südstadt-Gymnasiums Halle (Hrsg.): Unser Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle. 3. Auflage (2008)
Eintrag zu Yedidia Geminder
Eintrag zu Frieda Riesel