Wie kam es zum Aufstand in Halle?
Text: Dr. Udo Grashoff
Mangelwirtschaft und politische Unterdrückung - zur Vorgeschichte des 17. Juni
"Lebensmittel waren rationiert. Allein von den Lebensmittelkarten konnte man nicht leben."
Die Mehrheit der Bevölkerung sah in der politischen Lage der SBZ/DDR seit
Kriegsende eine Fehlentwicklung. Repressionen prägten das politische Klima.
Kritik an der SED wurde hart bestraft. Pfarrer und Mitglieder der „Jungen
Gemeinde“ wurden kriminalisiert und verfolgt.
Lebensmittel waren rationiert. Allein von den Lebensmittelkarten konnte man
nicht leben. Zwar verkauften die staatlichen HO-Läden zusätzliche
Nahrungsmittel - aber oft zum dreifachen Preis. Und so einfache Dinge wie
Rasierklingen, Lederschuhe oder Margarine gab es nicht einmal hier. In dieser
Situation empfand die Bevölkerung schon die Erhöhung des Marmeladepreises
als einschneidendes Ereignis.
Seit 1952 wurde die Gesellschaft im Zuge des „Kalten Krieges“ umfassend militarisiert.
Die Kasernierte Volkspolizei (KVP) entstand. Da die hierfür benötigten
Gelder außerplanmäßig abgezweigt wurden, verschlechterte sich die ohnehin
katastrophale Versorgungslage der Bevölkerung weiter.
Die SED machte angebliche Saboteure und Schmarotzer zu Sündenböcken für
die selbst erzeugte Misere: Bauern, die das Abgabensoll nicht erfüllten, standen
nicht selten vor der Wahl: Gefängnis oder Flucht in den Westen.
Kleinunternehmer wurden wegen geringfügigem Schwarzhandel enteignet und
ins Gefängnis gebracht.
In den Betrieben wurden die Gewerkschaften von der SED beherrscht.
Gleichzeitig versuchte die Regierung, die Arbeiter zu einer "freiwilligen"
Erhöhung der Arbeitsleistung zu bewegen. Die oft als Erpressungsversuch empfundene
Propaganda verstärkte den Unmut der Arbeiter.
Am 15. Mai verfügte die SED eine zehnprozentige Normerhöhung - was praktisch
eine Senkung der Löhne bedeutete.
Auf Druck Moskaus revidierte die DDR-Regierung am 9. Juni einen Großteil
ihrer bisherigen Politik, indem sie überraschend einen „Neuen Kurs“ verkündete.
Viele SED-Mitglieder waren zutiefst verunsichert. Gerüchte kursierten. An
den Stammtischen prophezeite man, der Umbruch sei nah. Ein Leserbrief, der in
der „Freiheit“ vom 15. Juni abgedruckt wurde, sah im „Neuen Kurs“ bereits
einen Schritt in Richtung Wiedervereinigung.
Der „Neue Kurs“ - von den Arbeitern als Eingeständnis der Schwäche empfunden
- weckte die Hoffnung, dass durch Streiks und Demonstrationen auch die
Normerhöhungen rückgängig gemacht werden könnten.
Ausgelöst wurde der republikweite Arbeiteraufstand durch den Streik der
Bauarbeiter der Berliner Stalinallee am Tag zuvor.
Ein spontaner Arbeiteraufstand
"Am 17. Juni bildeten sich zu Beginn der
Frühschicht Gruppen von Arbeitern, die darüber diskutierten, ob man sich dem Streik der Berliner Bauarbeiter anschließen solle."
Bereits Anfang Juni hatte das SED-Blatt „Freiheit“ berichtet, dass sich Arbeiter
in der Lokomotiven- und Waggonfabrik Ammendorf (LOWA) weigerten, die
Normerhöhung zu akzeptieren. Am 17. Juni bildeten sich zu Beginn der
Frühschicht Gruppen von Arbeitern, die darüber diskutierten, ob man sich dem
Streik der Berliner Bauarbeiter anschließen solle. Noch waren im „Roten Halle“
gewerkschaftliche Traditionen lebendig. Kein „westlicher Provokateur“ musste
den Arbeitern erklären, was ein Generalstreik ist.
Gegen 10 Uhr formierte sich in Ammendorf ein Demonstrationszug von etwa
2000 streikenden Arbeitern, darunter etwa 80 Prozent der SED-Mitglieder der
LOWA. Schon kurz darauf reagierte die Staatsmacht. Der Kommissarische Chef
der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP), Zaspel, berichtet: „Wir
beschlossen einen Einsatz der Reserve der BDVP, ca. 200 Mann, auf der Strasse
Ammendorf-Halle, um in der Nähe der Gaststätte Rosengarten diese illegale
Demonstration zu zerschlagen ... Später erhielt ich die telefonische Mitteilung
von Oberst Rodjonow ..., dass die Volkspolizei gegen die Demonstranten nicht
in Erscheinung treten soll und sich zurückhalten.“1
Die geplante gewaltsame Zerschlagung der Demonstration kam zunächst durch
den Einspruch des sowjetischen Kommandanten nicht zustande. Auch am
Objekt der Kasernierten Volkspolizei (KVP) in der Damaschkestraße konnten die
Demonstranten ungehindert vorbeiziehen, da die Polizisten keinen Befehl zum
Eingreifen hatten. In einem Polizeibericht hieß es später: „Immer mehr nahm
die Demonstration provokatorischen Charakter an, indem sie angebrachte
Sichtwerbungen zerstörten, in HO- und Konsumgeschäften eindrangen und tätliche
Angriffe auf Partei- und Staatsfunktionäre verübten.“2
Während sich die Vertreter der Staatsmacht durch den Protestzug tausender
Arbeiter bedroht sahen, empfanden die Demonstranten die Aktionen als
Befreiung. Die Menschen lachten und jubelten, wenn Stalinbilder und SED-Akten
auf die Straße flogen. Ein Zeitzeuge, der damals 9 Jahre alt war, erinnert
sich: „Aus Richtung Marx-Engels-Platz (Steintor) kamen tausende von Arbeitern
heranmarschiert. Am Reileck angekommen haben einige das ca. 6-8 m hohe
Stalinbildnis abgesägt. Unter tosendem Jubel krachte das Bildnis mitten auf den
Platz und tausende Füße stampften darüber. Meine Mutter drückte mich fest an
sich und Freudentränen rannen wie ein Wasserfall über ihre Wangen. Welch
eine Befreiung!“ (Aus einem Brief an Prof. Manfred Hagen, Göttingen. In der Ortsangabe irrt der Zeitzeuge:
Das Stalinbildnis befand sich am Stadtpark an der heutigen Magdeburger Straße)
Der 17. Juni - ein Tag der Gewalt?
"Um 16 Uhr wurde der Ausnahmezustand verhängt. Eine Stunde später postierten sich zwei sowjetische Panzer auf dem Markt."
„Die Stimmung war eine Mischung aus Freude und Besorgnis“, erinnert sich
eine Zeitzeugin. Bei der Besetzung der SED-Bezirksleitung und des Rates des
Bezirkes wurde das Bewachungspersonal entwaffnet. Dabei kam es zu
Rangeleien. Die große Mehrheit der Demonstranten aber war friedlich. Die den
Polizisten abgenommenen Waffen wurden zerstört bzw. in die Kanalisation
geworfen.
Um 14.15 Uhr erteilte der Chef der BDVP einen allgemeinen Schießbefehl.
Schwerverletzte und Tote gab es, als Polizeikräfte in die Menge schossen. Kein
Polizist oder Vertreter der Staatsmacht starb, aber acht Demonstranten bzw.
Unbeteiligte verloren ihr Leben.
Es gab auch Polizisten, die versuchten, Menschenleben zu bewahren. So rückte
die KVP an der Untersuchungshaftanstalt mit leeren Magazinen an. Zahlreiche
Einsatzkräfte weigerten sich, auf Demonstranten zu schießen, warfen die
Waffen fort oder ließen sich widerstandslos entwaffnen. Einige wurden dafür
nach dem 17. Juni bestraft.
Um 16 Uhr wurde der Ausnahmezustand verhängt. Eine Stunde später postierten
sich zwei sowjetische Panzer auf dem Markt. Dennoch fand die für 18 Uhr
anberaumte Kundgebung auf dem Hallmarkt statt: „Trotz des inzwischen verkündeten
Ausnahmezustandes konnte diese Kundgebung von den Faschisten
auf dem Hallmarkt noch durchgeführt werden, da ... ein Eingreifen der VP-KVP
und auch der sowjetischen Soldaten noch nicht für ratsam erachtet wurde, da
zu diesem Zeitpunkt noch zu schwache Kräfte in Halle anwesend seien“, konstatierte
der Polizeibericht.6
Auf der Kundgebung wurden noch einmal die Forderungen des Streikkomitees
bekräftigt: Freie Wahlen, 40%ige Senkung der HO-Preise, Rücktritt der
Regierung. Für den 18. Juni wurde zum Generalstreik aufgerufen. Die
Kundgebung endete mit dem gemeinsamen Singen des Deutschlandliedes.
Danach versuchten Panzer, die Menschenmenge vom Platz zu vertreiben. Ein
Teil der Demonstranten zog noch einmal in einem großen Demonstrationszug
über Thälmannplatz, Steintor, Reileck zum Robert-Franz-Ring. An der dortigen
Bezirksverwaltung des Staatssicherheitsdienstes wurde auf die Demonstranten
geschossen. Ein junger Arbeiter starb. In Panik löste sich der Demonstrationszug
auf.
Ab 21 Uhr wurde jeder festgenommen, der noch auf der Straße war. Gegen die
Menschen auf dem Markt gingen Polizeikräfte mit Bajonetten und
Gewehrkolben vor. Es kam zu Massenverhaftungen. Von den 464 im Bezirk
Halle befreiten Häftlingen waren eine Woche später 430 wieder in Haft.
Bilanz der Gewalt:
In der Stadt Halle gab es am 17./ 18. Juni 1953:
15 Leichtverletzte, davon 7 Vertreter der Staatsmacht
6 mittelschwer Verletzte, davon 3 Vertreter der Staatsmacht,
22 Schwerverletzte, davon 6 Vertreter der Staatsmacht,
8 Tote (Aufständische und Unbeteiligte),
davon am Nachmittag 5 Tote am Zuchthaus „Roter Ochse“,
gegen 19.15 Uhr 1 Toter an der SED-Stadtleitung am Thälmannplatz und
20.15 Uhr 1 Toter am Robert-Franz-Ring.
Am 18. Juni wurde eine Frau auf dem Markt erschossen.
Nach dem 17. Juni erschienen in der SED-Presse Berichte über angebliche „verbrecherische“ Ausschreitungen, die belegen sollten, dass am 17. Juni „faschistische Elemente“ am Werk waren. Besonders eine Person stand im Mittelpunkt der Berichterstattung: die angebliche „Rädelsführerin der Revolte“ Erna Dorn.