Waltraud Thiele aus Halle wurde am 1. Oktober 2024 vom Bundespräsidenten im Schloss Bellevue mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Waltraud Thiele wurde 1948 im Zuchthaus ROTER OCHSE als Tochter einer politisch Verfolgten geboren. Der Vater war nach der Verhaftung seiner schwangeren Freundin in den Westen geflohen und später nicht mehr auffindbar. Ihre 23-jährige Mutter wurde von einem Sowjetischen Militär-Tribunal zu 10 Jahren Strafarbeitslager verurteilt und mit dem Kind in das Sowjetische Speziallager Nr. 1 (vormals KZ Sachsenhausen) gebracht.
1950 wurde die Mutter in das Frauengefängnis Hoheneck gebracht und Waltraud für die nächsten vier Jahre in Spezialkinderheimen untergebracht. Zuletzt lebte sie im Kinderheim Naunhof bei Leipzig. Erst nach der Entlassung 1954 sahen sich Mutter und Kind wieder. Die 6-jährige konnte noch nicht richtig sprechen und keine Treppen steigen, da sie bisher nur in ebenerdigen Baracken gelebt hatte. Durch ihre Traumatisierungen fanden Mutter und Kind nur schwer wieder zueinander.
Bis 1990 arbeitete Waltraud Thiele im Fernsehgerätewerk Halle als Funkmechanikerin. Über die Vergangenheit durfte die Mutter in der DDR mit niemandem sprechen. Dadurch waren ihr viele Zusammenhänge auch selbst nicht bekannt. Darum widmete sich die Tochter sofort nach der deutschen Wiedervereinigung der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit und wurde Mitglied im „Bund stalinistisch Verfolgter“ (BSV), dessen Ortsgruppe Halle in die „Vereinigung der Opfer des Stalinismus“ (VOS) überging.
Bereits ab 1992 engagierte sich Waltraud Thiele für den Aufbau der Gedenkstätte „Roter Ochse“, ihrem Geburtsort. Von 1994 bis zum Renteneintritt 2011 war sie fest angestellte Mitarbeiterin der Gedenkstätte. Über den beruflichen Bereich hinaus engagierte sie sich ehrenamtlich für die Beratung und Betreuung politisch Verfolgter der DDR.
Im Folgenden wollen wir Frau Thieles Engagement besonders in den Bereichen hervorheben, die wir aus der Zusammenarbeit zwischen ihr und unserem Verein direkt beurteilen können.
Ehrenamtliche Beratung und Hilfe bei Rehabilitierung
Seit 1991 bietet Frau Thiele für Betroffene politischer Gewalt öffentliche Beratungen und Hilfestellung bei der Antragstellung für Entschädigungsleistungen nach den Reha-Gesetzen an.
Seit dem Jahr 2000 führt sie diese Beratungen an jedem letzten Donnerstag im Monat in unserem Begegnungszentrum in der Großen Ulrichstraße 51 durch, ist aber auch außerhalb dieser festen Sprechzeit für Betroffene erreichbar.
Sie zeichnet sich hierbei durch hohen Einsatz, ihre langjährige Erfahrung und besondere Feinfühligkeit aus. Sie hat auch in komplizierten Fällen Menschen helfen können, die von anderen Stellen mit Hinweis auf Aussichtslosigkeit ihrer Anträge abgewiesen worden waren oder die durch erniedrigende Behandlung in der Vergangenheit den Gang in Verwaltungsämter scheuen. Durch ihre offene Art und ihre eigenen Lebenserfahrungen gelingt es Frau Thiele in besonderem Maß vertrauensvollen Kontakt zu Betroffenen aufzubauen.
Monatliche Treffen für Geschädigte der SED-Diktatur
Als Folge der Beratungen entstand die Selbsthilfegruppe „Geschädigte der SED-Diktatur“, die sich unter der Leitung von Waltraud Thiele einmal im Monat ebenfalls in unserem Begegnungszentrum trifft.
Dabei handelt es sich meist um Menschen im Rentenalter, Betroffene und Angehörige, denen die regelmäßigen Treffen mit Menschen, die ähnlich schlimme Erfahrungen machen mussten, bei der Bewältigung ihrer eigenen Geschichte hilft.
Frau Thiele hält und fördert auch außerhalb dieser Treffen den Kontakt zwischen den Teilnehmern, so dass sich innerhalb der Gruppe ein wichtiger sozialer Zusammenhalt entwickelt hat. Frau Thiele sorgt auch für die Organisation der Bewirtung und gibt thematische Impulse. Mit der Gruppe nimmt Frau Thiele auch an Veranstaltungen des Landesverbandes der VOS teil.
Mitarbeit im Landesverband der VOS
Innerhalb des Verbands engagiert sich Frau Thiele seit Beginn und hat sich bei Auseinandersetzungen stets für Transparenz und demokratische Strukturen engagiert, wobei sie zeitweise auch Widerständen und persönlichen Diffamierungen ausgesetzt war. Sie hat sich dadurch aber weder einschüchtern noch davon abbringen lassen, bei strittigen Angelegenheiten stets für die Betroffenen das Wort zu ergreifen.
Mitarbeit im Beirat Heimkinder
2013 wurde Frau Thiele in den Fachbeirat der Anlauf- und Beratungsstelle „Fonds DDR Heim-Erziehung, Sachsen-Anhalt“ berufen. Gleichzeitig war sie Mitbegründerin der „Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Heimkinder Deutschland“ (AeHD).
Dabei geht es um gesellschaftliche Aufarbeitung und Entschädigung für das schreckliche Unrecht, das Kinder und Jugendliche in der DDR bis zum 21. Lebensjahr in Kinderheimen, Spezialheimen, Werkhöfen, Schulen oder in der Psychiatrie erleiden mussten.
Tagung von in Haft geborenen Kindern
Unter dem Titel „Kinder, geboren hinter Stacheldraht“ trafen sich 2009 Betroffene und ihre Angehörigen zu einer deutschlandweiten Tagung im halleschen Stadthaus. Organisiert hatte das Treffen Waltraud Thiele, unterstützt von der Bundesstiftung Aufarbeitung, vom damaligen Landesbeauftragten (LStU), von der Stadt Halle, dem Zeit-Geschichte(n) Verein und der Gedenkstätte „Roter Ochse“.
Hervorzuheben ist auch Waltraud Thieles bewundernswerte innere Kraft und Selbständigkeit, mit der sie sich aus einer schweren Kindheit mutig, zielstrebig und frei von Selbstmitleid herausgearbeitet hat sowie ihr ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit, mit dem sie sich viele juristische Kenntnisse angeeignet hat, mit denen sie ein Segen für andere politisch Verfolgte wurde. Sie ist ein besonderer Mensch, der eine Ehrung mit dem Bundesverdienstkreuz mehr als verdient hat.
Dr. Udo Grashoff, Heidi Bohley, Anne Kupke-Neidhardt
Vorstand Zeit-Geschichte(n) e.V.
Links:
Liste der am 1.10.2024 ausgezeichneten Bürger:
https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Frank-Walter-Steinmeier/2024/10/241001-Verdienstorden-TdDE.html
Zeitzeugenvideos mit Waltraud Thiele:
Geboren im „Roten Ochsen“: https://www.youtube.com/watch?v=Jp5KDtChJns&pp=ygUPd2FsdHJhdWQgdGhpZWxl
Heimerinnerungen: https://www.youtube.com/watch?v=iAd6BCOELbA&pp=ygUPd2FsdHJhdWQgdGhpZWxl
Klassenausflug in die Vergangenheit: https://www.youtube.com/watch?v=f40yunbRbos&pp=ygUPd2FsdHJhdWQgdGhpZWxl
Zeitungsbericht über ein Wiedersehen von Kindern des Kinderheims Naundorf, darunter Waltraud Thiele: https://www.zeitzeugen.brandenburg.de/fileadmin/user_upload/zeitzeugen_dateien/thema-1_lebenserfahrung_sowjetische-speziallager-1945-1950/sl014/sl014_08_02.pdf