Die "Tripperburg" in Halle

Kleine Klausstraße 16

In diesem Gebäude waren bis 1982 Mädchen und Frauen eingesperrt und unter Aufsicht von medizinischem Personal sexuellen Misshandlungen ausgesetzt.

Bereits 1949 lagen erste Überlegungen zur Einrichtung einer weiteren Beobachtungsstation für Frauen mit Geschlechtskrankheiten in der Kleinen Klausstraße vor. 1961 wurde dann eine geschlossene Venerologische Station unter dem Dach der Poliklinik eröffnet. Der Volksmund nannte diese Einrichtung abfällig „Tripperburg“. Was sich aber tatsächlich hinter den dicken Mauern abspielte, war in der Öffentlichkeit nicht bekannt.

Die Station in der 1.Etage war für Besucher unzugänglich. Sie diente nicht der Heilung und dem Schutz Kranker, sondern der Bestrafung meist sehr junger Frauen in einem rechtsfreien Raum. Die Zwangseinweisung erfolgte durch die Polizei, es bedurfte nicht unbedingt medizinischer Gründe. Oft reichte es, aus schwierigen familiären Verhältnissen geflohen und bei Polizeikontrollen aufgegriffen worden zu sein. Erste Recherchen zur halleschen „Tripperburg“ begannen im Jahr 2000 als sich eine ehemals dort Zwangsinternierte an Heidi Bohley vom Zeit-Geschichte(n) e.V. wandte und ihre unglaublich klingenden Erlebnisse schilderte.

Obwohl es sich um eine offizielle Krankenstation handelte, seien die Frauen wie Gefangene behandelt worden, mussten Anstaltskleidung tragen und Zwangsarbeit leisten. Vor allem aber litten sie unter den demütigenden, täglich (!) grob ausgeführten gynäkologischen Untersuchungen, für die sie sich in einer Reihe anstellen mussten. Verstöße gegen die „Hausordnung“ bestrafte man mit schmerzprovozierenden „Fieberspritzen“, die ohne jede medizinische Notwendigkeit verabreicht wurden. Im Bundesarchiv fand der Historiker Dr. Udo Grashoff vom Zeit-Geschichte(n) e.V. die „Hausordnung“ der geschlossenen Venerologischen Station, welche die Angaben der Betroffenen bestätigte. Benannt werden dort als „Erziehungsmaßnahmen“ auch das “Schlafen auf einem Hocker“ oder eine „Abstrichsperre“ zur Verlängerung der Internierung.

Nun begann eine konzentrierte Aufarbeitung des Themas. Nachdem die örtliche Presse berichtete, meldeten sich weitere Betroffene und zeitweilig dort Beschäftigte. Sowohl im Verein als auch bei der Behörde des Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wurden die Berichte aufgenommen und Kontakt zu den betroffenen Frauen gehalten. An der Martin-Luther-Universität untersuchten Florian Stegner und Maximilian Schochow das Thema und veröffentlichten ihre Ergebnisse 2014 unter dem Titel Disziplinierung durch Medizin.

Es stellte sich heraus, dass die geschlossene Venerologische Station keine hallesche Besonderheit war, sondern solche Stationen auch in anderen Städten existierten und Teil des DDR-Erziehungssystems waren, dessen Ziel die „Hausordnung“ so definiert:

„Durch erzieherische Einwirkung muss erreicht werden, dass diese Bürger nach ihrer Krankenhausentlassung die Gesetze unseres Staates achten, eine gute Arbeitsdisziplin zeigen und sich in ihrem Verhalten in unserer Gesellschaft von den Prinzipien des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger unseres Staates leiten lassen.“

Die wissenschaftliche Publikation von Steger und Schochow, in der Betroffene und Angestellte zu Wort kommen, ermöglichte inzwischen eine gerichtliche Rehabilitierung der Internierten. Das Gebäude der ehemaligen Poliklinik Mitte wird derzeit zu Wohnraum umgebaut. Eine Gedenktafel auf der anderen Straßenseite erinnert an die Misshandlungen der dort zwangseingewiesenen Frauen.

(Halle, 2022)

Bücher zum Thema:

Disziplinierung durch Medizin: Die geschlossene Venerologische Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961 bis 1982 (Studienreihe der Landesbeauftragten)

Zwischen Erziehung, Heilung und Zwang: Geschlossene Venerologische Einrichtungen in der SBZ/DDR, (Studienreihe der Landesbeauftragten)

Links zum Thema:

Feature zum Nachhören: Kleine Klaus 16 - Halle, die "Tripperburg" und ich.
Masterarbeit im Sudiengang "Multimedia und Autorschaft" an der Uni Halle.

Disziplinierung in der „Tripperburg“ (FAZ - 14.09.2014)

Vom Albtraum der „Tripperburg“ noch heute traumatisiert (WELT - 31.12.2016)

Tripperburg in Halle: Frauen zu DDR-Zeiten eingesperrt und gequält (Mitteldeutsche Zeitung - 23.02.2017)

"Für mich war es jeden Tag eine Vergewaltigung" (kma - 24.02.2017)

Eingesperrt, gequält, erniedrigt - wie die DDR Frauen gefügig machte (Süddeutsche Zeitung - 03.04.2017)

Zur Strafe in die "Tripperburg" (ZEIT - 02.07.2017, Bezahlschranke)

Leid und Unrecht in der "Tripperburg" (Ärztezeitung - 24.01.2018)

Die Tripperburgen der DDR: ein vergessener Skandal? (AKTE - 14.11.2019)

"Ich dachte, ich muss dort sterben" (ZEIT online - 08.07.2023, Bezahlschranke)

Innenhof Poli-Mitte (2000)

Innenhof ehem. Poliklinik Mitte , 2000, Foto Heidi Bohley

Gedenktafel

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