
Bernhardystraße 56
Hier wohnte die Familie Leopold, Olga geb. Gundersheimer und Ilselotte Nußbaum
Olga Nußbaum wurde am 19. März 1899 als viertes von sieben Kindern der Kaufmannsfamilie Gundersheimer in München geboren. Sie besuchte die Kaufmännische Handelsschule, arbeitete als Schneiderin und später als Kontoristin. 1922 heiratete sie den Kaufmann Leopold Nußbaum, der am 19. Mai 1897 in Jeßnitz das Licht der Welt erblickt hatte.
Leopold Nußbaums Familie war aus der Provinz Posen (heute Polen) nach Anhalt gekommen und verzog nach Leopolds Geburt mit ihm und seinen drei älteren Geschwistern von Jeßnitz nach Dessau.
Leopold und Olga Nußbaum kamen mit der Heirat 1922 nach Halle und lebten in der Bernhardystraße 56. Sie gründeten eine Friseurartikel-Großhandlung, die in der Königstraße 71 ansässig war. Olga Nußbaum war hier als Kontoristin tätig.
Am 21. September 1927 kam Tochter Ilse Liselotte, genannt Ilselotte, zur Welt.
1930 geriet das Geschäft in wirtschaftliche Schwierigkeiten, der Konkurs wurde abgewendet, aber der Handel infolgedessen vom Wohnhaus in der Bernhardystraße mitbetrieben.
Das einzige Foto von Leopold Nußbaum zeigt ihn, wie er im Hinterhof aus dem Fenster seiner Wohnung schaut. Aufgenommen hat es sein Nachbar, der seit 1934 im Haus ansässige Bäcker, dessen Sohn im Bildvordergrund zu sehen ist.

Leopold Nußbaum wurde im Zuge der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ am 25. April 1938 verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Knapp einen Monat später wurde von dort gemeldet, dass der 40-Jährige „am 13. Mai 1938 im Revier verstorben“ sei. Als offizielle Todesursache war allgemeine Herzerweiterung angegeben worden. Tatsächlich war es nach der Flucht zweier Häftlinge des Außenarbeitskommandos, bei der ein SS-Rottenführer erschlagen wurde, zu Racheakten der SS im Lager gekommen. Bei einer Prügelattacke erlitt Leopold Nußbaum schwerste Verletzungen, an denen er letztlich verstarb.
Auch Julius Pfifferling (STOLPERSTEIN Franckestraße 12), erschossen am 16. Mai 1938 bei der Arbeit im Steinbruch, wurde Opfer dieser Aktion. Leopold Nußbaum und Julius Pfifferling gehörten zu den ersten jüdischen Opfern des KZ Buchenwald.
Nach Erhalt der Todesnachricht flüchtete Olga Nußbaum Ende Juni 1938 mit ihrer 10-jährigen Tochter zu ihren Eltern Moses und Esther Gundersheimer und ihren drei dort lebenden Geschwistern nach München. Vom Standesamt Halle erbat sie postalisch mit dem verpflichtenden Antrag auf den zusätzlichen jüdischen Vornamen Sara eine aktuelle Geburtsurkunde ihrer Tochter, die zu einer Auswanderung benötigt wurde. Vermutlich versuchte die Mutter, für Ilselotte einen Platz in einem der Kindertransporte nach England zu bekommen. Die Auswanderung gelang jedoch nicht.
- Olga Nußbaum (Stadtarchiv München)
- Ilselotte Nußbaum (Stadtarchiv München)
Das Wohnhaus in der Münchner Herzogstraße 65, Eigentum von Olgas Eltern, wurde nun zum "Judenhaus" deklariert und weiteren jüdischen Familien als Wohnort zugewiesen. In den 4. Stock, wo auch Ilselotte und Olga Nußbaum wohnten, zog der 17jährige Walter Geismar mit seinen Eltern. Zwischen ihm und der 13jährigen Ilselotte entwickelte sich eine Jugendliebe.
Ab Januar 1941 musten Olga und Ilselotte Nußbaum in der „Heimanlage für Juden“ im Kloster der „Barmherzigen Schwestern“ in der Clemens-August-Straße 9 leben - ein Wohn-, Sammel- und Durchgangslager für Juden. Walter Geismar war ebenfalls hier untergebracht. Er erinnerte sich später, dass er mit Freunden, inbesondere aber auch mit Ilselotte das Lager abends heimlich verließ, indem sie auf Obstbäume im Garten kletterten, sich von dort auf die Mauer schwangen, die die Klosteranlage umgab, und nach draußen sprangen. Im Winter gingen beide an der Isar spazieren, ohne den Stern zu tragen. Einmal wagten sie es sogar, in einem Gasthaus einzukehren. Im Sommer fuhren sie ab und zu an den Deininger Weiher zum Baden: „Dort mischten wir uns unter die anderen Leute, jung und alt, die hier alle zum selben Zweck gekommen waren, von der Hitze Erleichterung zu bekommen und das stille Wasser zu genießen, denn in den öffentlichen Badeanstalten lagen die Menschen wie Heringe neben einander. Wir […] genossen den Tag als freie, gleichberechtigte Personen. Am Abend kehrten wir dann alle wieder unbehelligt und sonnenverbrannt ins Heim zurück und haben niemand von unserem Ausflug erzählt.“
Ab Mai 1942 war Ilselotte zur Zwangsarbeit in der Flachsröste Lohhof eingesetzt.
Im Juli 1942 mussten Mutter und Tochter sich von Olgas Mutter Esther Gundersheimer verabschieden, sie wurde nach Theresienstadt deportiert.
Am 13. März 1943 gingen auch Olga und Ilselotte auf Transport - nach Auschwitz.
Walter Geismar hatte versucht, ein Versteck für seine Freundin und ihre Mutter zu finden. Aber der Plan, sie in einer Schrebergartensiedlung unterzubringen und sie von dort aus zu nicht-jüdischen Freunden zu schaffen, scheiterte. Die Gartenanlage war durch einen Luftangriff wenige Tage zuvor abgebrannt. Am Morgen des 13. März 1943 warteten diejenigen, die die Gestellungsanordnungen erhalten hatten, auf den Abtransport, während die übrigen Bewohner des Lagers sich auf den Weg zur Arbeit machten. Walter Geismar schilderte seinen Abschied von Ilse Nußbaum wie folgt: „[…] plötzlich stand Ilse vor mir mit Tränen in den Augen und mir ging es nicht viel besser, wir haben uns umarmt und wollten nicht gehen lassen […]. Ich sagte: ‚Ich geh mit Dir!‘ Aber sie sagte: ‚Bitte tu das nicht, nicht nur, dass Du deine Eltern hier hast, Du kannst uns vielmehr helfen oder etwas senden, wenn Du hier bleibst und wenn ich wieder zurückkomme, bist Du mit deinem grünen Bayernhut am Hautbahnhof, dass ich dich gleich erkenne!‘ Ich versprach es ihr, sie fing an zu weinen und stieß hervor: ‚Wir sehen uns nie wieder!‘“
Am 15.06.1943 schrieb Ilselotte aus Auschwitz eine Postkarte an ihren Freund Walter Geismar:
"Mein lieber Walter! Ich bin gesund. Mir geht es gut. Bin mit Mutti beisammen. Bleibe tapfer. Auch ich lasse mich nicht unterkriegen! Vergiss mich nicht und schreibe sofort. Mutti lässt Dich und Deine lieben Eltern grüssen. Ich grüsse Dich innig und küsse Dich innig und Deine lieben Eltern! In alter Liebe Deine Ilse-Kochani"
(Kochani ist polnisch und bedeutet Liebling.)
Am 31.12.1943 wurden Olga und Ilselotte Nußbaum in Auschwitz ermordet.
Zum Gedenken an Olga und Ilselotte Nußbaum wurde auf dem Grabstein von Olgas Vater Moses Gundersheimer (1865-1939) auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München eine Inschrift hinzugefügt.
Olgas drei Geschwister konnten rechtzeitig in die USA emigrieren. Ihre Mutter Esther Gundersheimer überlebte das KZ Theresienstadt und verbrachte die letzten Lebensjahre bei ihren verbliebenen Kindern in Amerika.
Walter Geismar überlebte mehrere Arbeitslager und emigrierte nach dem Krieg mit seinen Eltern zu seinem Bruder nach Australien.
Die Stolpersteine für Familie Nußbaum liegen an der Hausecke der Bernhardystraße 56, wo sich einst der Hauseingang befand.
- Saalezeitung 29.3.1927
- Ilselotte Nussbaum auf der Liste, die verzeichnete, auf welcher Schule jüdische Schüler waren. Ilselotte war Schülerin der Johannesschule.
- Karteikarte zu Leopold Nußbaum aus dem KZ Buchenwald (Arolsen Archives)
- Arolsen Archives
- Arolsen Archives
- Stadtarchiv Halle
- Stadtarchiv Halle
- Ilselotte Nussbaum 1943 in München (Stadtarchiv München)
- Ilselotte mit ihrem Freund Walter Geismar (Stadtarchiv München)
- Olga und Ilselotte Nußbaum (Stadtarchiv München)
- Foto von Ilselotte aus dem Nachlass von Walter Geismar im Holocaust Museum Melbourne
- Das Kindermädchen und hier Aushilfe vor dem Bäckerladen im Erdgeschoß des Hauses. Die Bäckerfamilie brachte Familie Nußbaum in den 30er Jahren häufig Backwaren an die Tür. Sie taten das nachts, weil ein strenger SA-Mann im Haus wohnte.
- Winterlicher Blick vom Haus auf den Vorgarten der Bernhardystraße 56, Ende 30er Jahre. Der Zaun wurde 1940 Opfer der Kriegs-Metallspende.
Quellen und weiterführende Informationen
Volkhard Winkelmann und ehemaliges Schülerprojekt "Juden in Halle" des Südstadt-Gymnasiums Halle (Hrsg.): Unser Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle. 3. Auflage (2008)
Eintrag zu Leopold Nußbaum
Eintrag zu Olga Nußbaum
Eintrag zu Ilselotte Nußbaum
Stadtarchiv Halle
Stadtarchiv München
Arolsen Archives
Harry Stein: Juden in Buchenwald 1937 -1942. Sonderdruck der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Weimar 1992.
Deutsches Zeitungsportal der deutschen Digitalen Bibliothek
Gedenken an Ilselotte Nussbaum in München: https://www.gedenken9nov38.de/archiv/namenslesung-2023/ilse-liselotte-nussbaum/
Gedenkbuch München zu Olga Nußbaum: https://gedenkbuch.muenchen.de/index.php?id=gedenkbuch_link&gid=5185
Gedenkbuch München zu Ilselotte Nussbaum: https://gedenkbuch.muenchen.de/index.php?id=gedenkbuch_link&gid=5184
Biographie von Ilselotte Nussbaum auf der Seite zur Zwangsarbeit in der Flachsröste Lohhof: https://www.denkmal-lohhof.de/biografie/5184
Flachsröste Lohhof: https://gedenkbuch.muenchen.de/index.php?id=flachsroeste_lohhof
Foto von Leopold Nussbaum, Bäckerladen und Straßenansicht: Annerose Schönberg mit besonderem Dank
Briefe von Walter Geismar an das Münchner Stadtarchiv, zitiert nach Susanna Schrafstetter: „Geltungsjüdische“ Jugendliche in München 1938–1945. Erschienen in Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur Nr. 2 (2014) S. 57-75. Siehe hier: https://mb-jgk.ub.uni-muenchen.de/index.php/mbjgk/issue/view/16

















